Damaskus Syriens Staatschef hat mehr Opfer als der IS auf dem Gewissen

Damaskus · Bei den Bemühungen um ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien darf nicht in Vergessenheit geraten, wer ihn eigentlich verursacht hat.

Der Wind im Mittleren Osten dreht sich. Jetzt wird in Wien diskutiert, ob der syrische Präsident Baschar al Assad an der Macht bleiben kann, zumindest für eine Übergangszeit. Der Bürgerkrieg in Syrien reduziert sich auf die Bekämpfung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Assad wird fast schon als kleineres Übel angesehen. Spricht man allerdings mit Syrern in den Kampfgebieten oder lässt syrische Flüchtlinge in Europa zu diesem Thema zu Wort kommen, so ist es mitnichten der IS, der für sie die schlimmste Bedrohung darstellt. Internationale Menschenrechtsorganisationen benennen mit ihren Zahlen den tatsächlichen Aggressor. Demnach gehen von den 250.000 toten Zivilisten in den zurückliegenden vier Bürgerkriegsjahren 95,3 Prozent auf das Konto des Assad-Regimes in Damaskus. Knapp ein Prozent sei vom IS getötet worden, für zwei Prozent der Toten soll Al Nusra, ein Al-Kaida-Ableger, verantwortlich sein. 1,3 Prozent haben die anderen Rebellengruppen auf dem Gewissen und 0,2 Prozent die Kurden.

Wenn auch diese Zahlen nicht detailgenau überprüfbar sind, so ist die Tendenz doch eindeutig: Nicht der IS mit all seinen Gräueltaten ist die Hauptursache für die unendlichen Leiden der syrischen Bevölkerung, sondern das Regime. Auch während die Weltmächte in Wien verhandeln, wirft Assads Luftwaffe Fassbomben auf die Stadt Dumaa. 60 Prozent der Infrastruktur des Landes sind zerbombt, fast die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht.

Eines allerdings muss man den IS-Dschihadisten zuschreiben: Seitdem sie sich im April 2013 aus der Rebellenfront in Syrien herauslösten, haben sie den Mittleren Osten massiv verändert. Mit einer Mischung aus Brutalität und Medienverstand locken sie erfolgreich ausländische Islamisten als Kämpfer an und haben ein löchriges, aber mittlerweile durchaus stabiles Kalifat über die Grenzen von Syrien und des Irak hinweg errichtet. Wenn die letzte Ruine von Palmyra in Trümmer gesunken ist, wird der IS vermutlich wieder ein paar spektakuläre Hinrichtungen filmen. Das klingt zynisch. "Aber so bedient der IS unser Nachrichten- und Bilderbedürfnis, er weiß, wie wir funktionieren, und nutzt das", sagt "Spiegel"-Korrespondent Christoph Reuter, der wie kein anderer die Lage in Syrien von Anfang an beobachtet hat. "Ohne die Medien", so sein Fazit, "wäre der IS nicht das, was er ist."

Doch noch ein anderer ist an der Bedeutung, die dem IS beigemessen wird, maßgeblich beteiligt: Assad selbst. Obwohl er vorgibt, gegen die Terrormiliz zu kämpfen, begünstigte er wesentlich ihren Aufstieg. Sayeed Moqbil, einer der bekanntesten Oppositionellen Syriens, hat beobachtet, dass das Regime und der IS nicht wirklich Gegner sind. "Der IS kämpft gegen die syrische Zivilbevölkerung und nicht gegen das Regime. Und umgekehrt ist das auch der Fall." Das Regime habe kampflos oder mit wenig Widerstand strategisch wichtige Gebiete dem IS überlassen. Der Verdacht drängt sich auf, dass beide erheblich voneinander profitieren.

(RP)
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