Seoul Südkoreas nationaler Schiffbruch

Seoul · Vertuscht die Regierung die Wahrheit über den Untergang des Fährschiffs "Sewol" vor zwei Jahren? Die Frage spaltet das Land.

Lee Geun-hee will nicht mehr warten. "Wenn das noch lange so weitergeht", sagt die kurzhaarige Frau mit zittriger Stimme, "geh' ich auch noch vor die Hunde." Nach all dem Kampf verlassen sie allmählich die Kräfte. Zuerst kam der Bluthochdruck, jetzt plagt sie Diabetes. Seit Wochen liegt Lee Geun-hee in der Klinik. Ihr kommen die Tränen. "Meine Tochter war meine beste Freundin. Und heute weiß ich nur, dass sie tot ist. Aber gesehen hab ich sie noch immer nicht." Ihre geliebte Cho-eunha wurde nur 16 Jahre alt. Sie kam beim Untergang der südkoreanischen Fähre "Sewol" im April 2014 ums Leben. Der Streit über die Hintergründe des Unglücks und deren Aufklärung spaltet die Nation.

Lee Cho-eunha gehört zu neun Opfern der Schiffskatastrophe, deren Körper bis heute nicht gefunden wurde. Und weil ein Verstorbener nach koreanischem Glauben erst dann Frieden finden kann, wenn er bestattet wurde, erlebt die Mutter Lee Geun-hee die Hölle auf Erden. "Das Schiff ist ja immer noch unter Wasser. Cho-eunha ist wahrscheinlich noch in einer Kabine." Auf dem Tisch im Krankenhaus ihres Heimatortes Ansan thront ein Bild der Tochter Cho-eunha. Und wann immer Lee Geun-hee mit der Regierung oder der Öffentlichkeit spricht, tritt sie nur als "Cho-eunhas Mutter" auf. Schließlich gehe es um sie, das eigentliche Opfer dieser Sache.

Zwei Jahre sind vergangen, seit diese nationale Katastrophe Südkoreas begann. Am Morgen des 16. April 2014 war die "Sewol" auf dem Weg von Seoul zur südlich gelegenen Urlaubsinsel Jeju. Kurz vor dem Ziel sank sie. 304 Menschen starben, darunter vor allem Schüler aus dem armen Seouler Vorort Ansan. Wäre die Havarie ein normales Unglück, wäre es für die Koreaner bei tiefer Trauer geblieben. Bald aber mischten sich Zorn, Misstrauen und Angst in die Angelegenheit.

Es ist ein Fall, der den Glauben vieler Koreaner in die Eliten des Landes so tief erschüttert hat, dass die alten Gräben aus der Zeit der Diktatur wieder aufzubrechen scheinen. Es gibt jene, die zu den Opferfamilien halten. Am ersten Jahrestag des Unglücks protestierten Zehntausende gegen die langsame Aufarbeitung durch die Regierung, wurden dafür von der Polizei mit Wasserkanonen beschossen. Dagegen schikanieren andere Eltern im Hungerstreik auf der Straße oder beschimpfen sie in der Öffentlichkeit als gierige Unruhestifter. Ähnlich wie man früher, vor Südkoreas Demokratisierung ab 1987, das Militärregime entweder bekämpfte oder es vorbehaltlos unterstützte.

Lee Geun-hee hat sich lange verboten, so zu denken. Mittlerweile könne sie aber nicht mehr anders: "Ich glaube nicht, dass die Politik unbedingt das Beste für ihre Bürger will." Als die Mutter das sagt, sieht sie so aus, als hätte sie etwas Verbotenes ausgesprochen. "Ich will glauben, dass die Dinge heute besser sind als in meiner Jugend zu Zeiten der Diktatur. Aber warum habe ich den Körper meiner Tochter dann immer noch nicht? So schwer kann das doch nicht sein!"

Warum? Diese Frage bleibt an vielen Stellen offen. Warum zum Beispiel war die Rettung so langsam, dass die meisten der 476 Passagiere starben? Warum fuhr das Schiff kurz vorm Untergang abrupte Manöver, obwohl es am 16. April 2014 keinen hohen Wellengang gab? Warum war das Schiff so stark überladen, dass es leicht umkippen konnte? Warum wurden die Passagiere angewiesen, auf dem Schiff zu bleiben, während die Crew von Bord ging? Wieso stimmen verschiedene Radaraufnahmen der Route des Schiffs kurz vor dem Untergang nicht überein?

Auf jede dieser Fragen gibt es Antworten, allerdings jedes Mal verschiedene. Je nachdem, wen man fragt, erhält man eine Theorie, die entweder alles wie ein Unglück aussehen lässt oder wie eine wüste Verschwörung. Die Frage spaltet Korea seit zwei Jahren. Wie konnte so ein Misstrauen entstehen, keine 30 Jahre nach Südkoreas Übergang von einer Militärdiktatur zu einer liberalen Demokratie? Eineinhalb Zug-Stunden nördlich von Lee Geung-hees Krankenbett, im Zentrum der Hauptstadt Seoul, stellt Kim Ou-joon diese Frage jeden Tag. Kim ist einer der bekanntesten Journalisten und Polit-Satiriker seines Landes, zugleich aber auch einer der umstrittensten. Kim Ou-joon hat eine eigene TV-Sendung, in der es es immer wieder um den Fall "Sewol" geht. "Die Regierung scheint in der Sache eine wichtige Rolle zu spielen", sagt Kim. Mehrere Klagen hat Kim deswegen am Hals, einschüchtern lassen werde er sich nicht. Im Internet warb Kim um Geld für Investigativrecherchen. "Ich versichere ehrliche Berichterstattung", warb er und stichelte damit gegen die Mainstreammedien, die sich dem Thema kaum noch widmen.

Kim klappt seinen Laptop auf, ascht in eine leere Cappuccinotasse. Auf einer Seekarte sind die Radardaten vom Militär eingezeichnet sowie die der Küstenwache und jene der "Sewol". "Eigentlich sollten alle drei Quellen eine identische Route zeigen", murmelt Kim. "Tun sie aber nicht." Der Kapitän eines anderen Schiffs, das kurz nach dem Untergang die Gegend durchfuhr, zeigte mit seinen Radardaten, dass die "Sewol" wesentlich näher an der Insel sank, als Regierung und Betreiberfirma behaupten. Damit wäre die missglückte Rettungsaktion noch weniger zu entschuldigen. Aber das ist nicht alles. Einige fragen sich sogar, ob der Unfall nicht sogar gewollt war. Kim Ou-joon und sein Team vermuten, dass zwar niemand plante, Menschenleben aufs Spiel zu setzen, der Untergang des Schiffs aber dennoch mit Absicht passierte. "Versicherungsbetrug ist in der Schiffsbranche nicht selten."

Ende März lud eine parlamentarische Untersuchungskommission Zeugen vor, die den Fall noch merkwürdiger erscheinen lassen. Verbindungen zwischen der Schiffsbetreiberfirma und dem koreanischen Geheimdienst wurden dokumentiert. Mehrere Journalisten mutmaßen nun, dass der Geheimdienst das Schiff als Geldquelle für seine Aktivitäten nutzte. Wenn das stimmt, wäre verständlich, warum die Aufklärung des Falls kaum vorangeht.

In offiziellen Kreisen werden Leute wie Kim Ou-joon als Verschwörungstheoretiker gehandelt. Von Jang Gi-wook zum Beispiel, er ist Verantwortlicher der Regierungsstelle, die mit der Hebung der "Sewol" beauftragt ist. Aber das sei nicht einfach. "Die Strömung ist so stark, dass wir das Schiff nicht heben können, ohne womöglich wichtige Teile zu beschädigen." Im Juli soll es nun so weit sein. Die Untersuchungskommission will ihren Abschlussbericht aber schon im Juni vorlegen. Die Ergebnisse würden also präsentiert, ohne das Schiff gründlich untersucht zu haben.

Zurück in Ansan, dem Herkunftsort der meisten Verstorbenen: Lee Jae-sang, Mutter von Do-eun, die heute 18 Jahre alt wäre, geht mit leisen Schritten in die Schule ihrer Tochter. Die schlanke, langhaarige Dame kommt täglich, so wie es früher Do-eun tat. Zehn Klassenräume sind zu Gedenkstätten geworden. Die Sitzordnung ist eingehalten, nur sind die Stühle und Tische nicht mit Jugendlichen besetzt, sondern von Blumensträußen, Fotos und Süßigkeiten überhäuft. "Die Schule setzt uns unter Druck, dass wir die Klassenräume hergeben", flüstert Lee Jae-sang, die das Denkmal pflegt und schützt. "Aber das Land braucht etwas, das an diese Affäre erinnert." Das Sewol-Unglück sei mehr als ein Unfall. "Wenn uns die Regierung nicht sagen will, wie das alles passieren konnte, müssen wir langsam annehmen, dass sie selber Mitschuld trägt." Und wenn das wirklich so ist, flüstert Lee Jae-sang noch leiser, als sie sich an den Tisch ihrer Tochter Do-eun setzt, "dann ist dieses Land heute nicht mehr viel besser als zu Zeiten der Diktatur."

(RP)
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