Analyse Südamerika droht das Chaos

Caracas · Venezuela gleitet in eine Diktatur ab, in Brasilien regiert die Korruptionslobby. Ausgerechnet das einstige Schmuddelkind Kolumbien entwickelt sich zum Hoffnungsträger.

Hugo Chávez ist zurück: Das Gemälde des vor vier Jahren verstorbenen venezolanischen Revolutionsführers schmückt wieder das Gebäude der Nationalversammlung des Landes. Ende 2015 hatten die bis dahin regierenden Sozialisten mit einer krachenden Niederlage ihre Mehrheit im Parlament verloren. Die bürgerlich-konservative Opposition hatte das Bild von Chávez, das die Sozialisten nach dessen Tod unübersehbar im Raum positioniert hatten, daraufhin von der Empore entfernet. Jedoch: Es blieb der einzige Sieg der Opposition über die Revolution. Präsident Nicolás Maduro ignorierte das eindeutige Wählervotum fortan und regierte mit Hilfe von Sonderdekreten einfach so weiter, als hätte das venezolanische Volk den Sozialisten die Rote Karte an der Urne nie gezeigt.

Seit vergangener Woche ist der kalte Putsch von Caracas perfekt. Die neue starke Frau des Landes, Ex-Außenministerin Delcy Rodríguez, hat als Präsidentin der verfassungsgebenden Versammlung (ANC) klargestellt: Von nun an haben sich alle Institutionen der ANC unterzuordnen. Ein Ermächtigungsgesetz auf venezolanische Art, das die Demokratie westlichen Zuschnitts Schritt für Schritt durch einen Ein-Parteien-Staat nach kubanischem Vorbild ersetzt. Opposition und Widerspruch werden künftig lebensgefährlich. Trotz Hinweisen auf Manipulationen bei der Wahl zur Versammlung ziehen Venezuelas Sozialisten ihre Rückeroberung der Institutionen durch.

Die große Mehrheit des Kontinents schaut all dem erschrocken und eingeschüchtert zu. Seit den Militärputschen der ultrarechten Generäle in Chile, Paraguay, Argentinien oder Brasilien in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat es keine so skrupellose Unterdrückung des Wählerwillens in Lateinamerika mehr gegeben wie in diesen dunklen Tagen von Caracas.

Schlägt Rodríguez weiter dieses Tempo an, wird in wenigen Wochen die gesamte Prominenz der venezolanischen Opposition verhaftet und verurteilt sein. Und bei den seit Monaten verschleppten Regionalwahlen droht das nächste Desaster für die Demokratie: In sieben der 23 Bundesstaaten dürfen überhaupt keine Oppositionskandidaten mehr teilnehmen, melden regierungskritische Medien. Selbst jenen Oppositionsvertretern, die bei den Wahlen gewinnen sollten, droht Machtlosigkeit. Die ANC will zwei Jahre lang "regieren" und steht dabei über allem - egal wen und wie die Venezolaner wählen werden. Danach soll es Präsidentschaftswahlen geben. Schwer vorstellbar, dass es dann überhaupt noch zu einer freien und fairen Wahl kommen kann. Sie würde für Maduro ihr Leben geben, ließ Rodríguez vor wenigen Wochen wissen. Und der Rest der Welt beginnt nun zu verstehen, dass sie es ernst meint. Maduro und Rodríguez verheimlichen nicht einmal, dass sie nicht bereit sind, sich jemals wieder von der Macht verdrängen zu lassen.

Der kalte Putsch von Caracas ist nur einer der Krisenherde in Südamerika. Nachbar Brasilien stolpert durch eine Korruptionskrise, die Präsident Michel Temer nur noch durch schmutzige Tricks hinter den Kulissen hat überstehen können. Mit Gesetzen, zu deren Verabschiedung wieder einmal die Interessen der indigenen Bevölkerung zugunsten derer der skrupellosen Agrarlobby zurückgedrängt wurden, sicherte sich Temer die Mehrheit im Parlament. Die rettete ihn vor einer Anklage und der damit verbundenen Amtsenthebung. Doch 2018 stehen Wahlen an, und zwei Populisten haben dabei beste Chancen: Der linksgerichtete Ex-Präsident Lula da Silva, der allerdings gegen seine umstrittene Verurteilung wegen Korruption kämpft, und Jair Bolsonaro, eine Art rechtsnationale-brasilianische Ausgabe von Nicolás Maduro.

Und es gibt weitere Probleme auf dem Subkontinent: Nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit spielt sich in Ecuador ein bizarrer Machtkampf zwischen Präsident Lenin Moreno und seinem Vizepräsidenten Jorge Glas ab, dem Moreno die Vollmachten entzog. Im Hintergrund zieht Ex-Präsident Rafael Correa die Fäden der Regierung, die fürchtet, an Einfluss zu verlieren. In Argentinien zieht es Ex-Präsidentin Cristina Kirchner bei den Parlamentswahlen im Oktober auf die politische Bühne zurück. Zwar schaffte es ihr konservativ-bürgerlicher Nachfolger Mauricio Macri, die Wirtschaft zu stabilisieren, doch in den Armenvierteln kommt von der leichten Erholung nichts an. Und in Bolivien sucht Präsident Evo Morales verzweifelt einen Weg, das Nein des bolivianischen Volkes zu einer Verfassungsänderung und damit auch zu seiner erneuten Kandidatur 2019 zu umgehen. Seine Begeisterung für die Vorgänge in Venezuela lassen nichts Gutes ahnen.

Umso bemerkenswerter ist die Entwicklung in Kolumbien, dem einstigen Schmuddelkind des Subkontinents. Die Wirtschaft des Landes steht verhältnismäßig stabil da, der unterschriebene Friedensvertrag mit der linksgerichteten Guerilla-Organisation Farc macht Kolumbien zum Liebling internationaler Investoren. Die niedrigste Mordrate seit Jahren und atemberaubende Entwicklungen im Tourismussektor sorgen für eine stetig wachsende Mittelschicht.

Doch auch diese Entwicklung ist in Gefahr: Die Flüchtlingsströme aus Venezuela sind für die kolumbianische Gesellschaft mit einer Arbeitslosenquote von immer noch rund zehn Prozent kaum zu verkraften und werden vor allem in der Grenzregion zu Verwerfungen führen. Venezuela könnte damit der Stein des Anstoßes werden, der ganz Südamerika ins Chaos stürzt.

(RP)
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