Die SPD in der Krise Sozialdemokratische Zeitenwende

Düsseldorf · Irgendwie seien wir heute alle Sozialdemokraten, stellte Ralf Dahrendorf schon vor 35 Jahren fest. Und in seinem Sinne stimmt das auch - bloß weiß heute keiner mehr, was das heißt. Auch nicht, und das ist fatal, die SPD selbst.

SPD - Volkspartei in der Krise - Sozialdemokratische Zeitenwende
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Eine Torte sagt oft mehr als tausend Worte. "Torten der Wahrheit" zum Beispiel, kleine satirische Diagramme in der Wochenzeitung "Die Zeit". Neulich gab es eine akkurat in zwei Hälften geteilte Torte. Überschrift: "Was die SPD jetzt falsch machen kann". Linke Hälfte: "Regieren". Rechte Hälfte: "Nicht regieren".

Wie sie's machen, ist es verkehrt. In der Tat kann, wer, Sympathie hin oder her, die SPD für einen sinnvollen Teil des Parteiensystems hält, vor ihrem Niedergang nur erschaudern. In der SPD selbst hat das dazu geführt, dass die einen unbedingt nicht regieren wollen, die anderen eher notgedrungen, aus Verantwortung. Selbst Untergangsszenarien machen die Runde, mit Verweis auf die pulverisierten Schwesterparteien in den Niederlanden, Frankreich, Griechenland.

Ist die sozialdemokratische Ära zu Ende? Die These formulierte schon 1983 der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf: Zentrale Vorstellungen der Sozialdemokratie - Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus - böten keine Lösungen mehr. Das galt nicht bloß der SPD, sondern der Sozialdemokratie als Weltanschauung - aber "die SPD verkörpert im Kern Dahrendorfs Diagnose", sagt Ute Fischer, Professorin für Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund.

Tatsächlich waren die vergangenen 100 Jahre ein sozialdemokratisches Jahrhundert. Das beginnt 1918, als die SPD Regierungsverantwortung übernimmt und die Niederlage abwickelt. 1933 bietet sie als letzte Partei Hitler im Reichstag die Stirn. 1959 findet sie mit dem Godesberger Programm den Weg zur Volkspartei. In den 60er Jahren ebnen Sozialdemokraten durch massive Investitionen Millionen den Weg zu akademischer Bildung und sozialem Aufstieg. Anfang der 70er gestaltet Willy Brandt die neue Ostpolitik, die einer der Bausteine der deutschen Einheit wird. 30 Jahre später boxt Gerhard Schröder die dringend nötige "Agenda 2010" durch. Und 2018 wird die SPD wohl wieder Regierungsverantwortung übernehmen - unter Schmerzen.

Damit aber wird die Frage nach dem Ende des sozialdemokratischen Zeitalters nur noch dringlicher. In den Umfragen geht es für die SPD immer weiter bergab, zuletzt sogar unter 20 Prozent. Und ein klarer Gegner ist nicht auszumachen: Bei der Bundestagswahl 2017 verlor die SPD per Saldo Wähler an AfD, FDP, Linke und Grüne - je zwischen 470.000 und 380.000 Stimmen.

Das Problem der SPD ist also ein sehr grundsätzliches, nicht nur eins falscher Führung oder verkorkster Wahlkämpfe. Dahrendorf lese sich nach 35 Jahren erstaunlich aktuell, sagt Fischer und dekliniert die Kriterien durch: Wachstum? Sei als Ziel längst kein Konsens mehr. Gleichheit? Habe die SPD im Kern mit der Agenda aufgegeben. Arbeit? Werde von der SPD auf Erwerbsarbeit verengt. Vernunft? Von wegen, "alternative Fakten" sind in! Der Staat? Leide unter Vertrauensschwund. Internationalismus? Lieber die Grenzen zu, laute die Parole. Man könnte es auch so fassen: Umverteilung, Protest, idealistische Weltoffenheit, allesamt alte sozialdemokratische Haltungen, vertreten heute andere konsequenter - Linke, AfD, Grüne.

Die Wähler sind mobil geworden, alte Loyalitäten verdampft

Wenn Dahrendorf damals schon recht hatte, hat er es heute erst recht - nur dass sich heute die strukturelle Krise der SPD auch in krisenhaften Wahlergebnissen äußert. Die Wähler sind mobil geworden, alte Loyalitäten verdampft. Das heißt auch: 15 Prozent scheinen nicht mehr unmöglich.

Bleibt die Frage, was das nun heißt. Auch wenn Regieren keine Pflicht ist, wird man gegen eine erneute große Koalition rational schwer argumentieren können - seit Max Weber wissen wir: Den eigenen Willen durchsetzen zu können, bedeutet Macht, das Ziel aller Politik. Eine Groko ist nur konsequent; Ängste, Angela Merkel regiere alle Partner in den Ruin, belegen nur, wie fertig mit den Nerven der Patient SPD ist.

Die Sozialdemokratie wird nicht umhinkommen, Dahrendorfs Kriterien mindestens ein weiteres, tragfähiges hinzuzufügen, welches auch immer: Schutz vielleicht, vor den Krisen der Welt, was hieße: Konzentration auf die vermeintlich oder tatsächlich Abgehängten, die sich vor dem Abstieg ängstigen. Oder Aufstieg, zum Beispiel durch Bildung, was nicht nur den Abbau von Barrieren bedeuten würde, sondern auch die entschlossene Würdigung von Leistung, in der Schule und im Erwerbsleben. Ohne Richtungsentscheidungen wird es kaum gehen.

"Die alte SPD findet man heute mehr in der CDU, der CSU und selbst in der AfD wieder"

Am Ende des Jahrhunderts seien "wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden", stellte Dahrendorf 1983 fest. Und es stimmt ja, auch wenn kaum jemand noch weiß, was das bedeutet. In dem Satz steckt mehr als der Spruch, die SPD habe sich zu Tode gesiegt - es geht um Wertewandel, um politische Kontinentalverschiebung. "Die alte SPD findet man heute mehr in der CDU, der CSU und selbst in der AfD wieder", resümiert der Osnabrücker Politologe Roland Czada, ein Dahrendorf-Schüler; ihr fehlten Orientierung und "zugkräftiges Führungspersonal" zugleich.

"Gesellschaftlichen Weitblick" vermisst Ute Fischer: Visionen. Wobei gilt: Höhere Steuern verlangen, Siemens beschimpfen, selbst die Bürgerversicherung sind noch keine Visionen, nur Mittel. Und Visionen sind keine politische Krankheit. Sie fehlen, gerade in der Sozialdemokratie, ebenso wie die intellektuellen Köpfe, die diese Visionen entwickeln. Also, mit einem Titel der deutschen Band Deichkind gesagt: Denken Sie groß!

Eine Merkel haben ja schon die anderen.

(fvo)
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