Analyse Existenzkrise einer Volkspartei

Berlin/Düsseldorf · Die SPD taumelt von Umfragetief zu Umfragetief. Jetzt gab es eine Krisensitzung, die Debatte über Parteichef Sigmar Gabriel ist vorerst leiser geworden. Das freut die NRW-Genossen, denn Zwist würde ihrem Wahlkampf schaden.

 Die Debatte über Parteichef Sigmar Gabriel ist leiser geworden - vorerst.

Die Debatte über Parteichef Sigmar Gabriel ist leiser geworden - vorerst.

Foto: dpa, rje kno jai

Sigmar Gabriel ist wieder gesund. Die Gürtelrose, die ihn plagte, hat er überwunden, er wirkt nun nicht mehr so angeschlagen und müde wie zuletzt - auch wenn der SPD-Chef angesichts anhaltend schlechter Umfragewerte für sich und die Partei allen Grund dazu hätte. Doch das Gegenteil ist der Fall: Bei einem als Krisensitzung angekündigten Treffen mit den zwölf weiteren Mitgliedern des Parteipräsidiums im Berliner Willy-Brandt-Haus und den SPD-Ministerpräsidenten sei Gabriel gut gelaunt gewesen, umtriebig, sagten Teilnehmer hinterher. Er sei immer dann am besten, wenn es gerade nicht so rund laufe.

Blickt man aber auf die jüngsten Umfragen der Meinungsforschungsinstitute, kann das nur als maßlose Untertreibung gewertet werden. Die SPD hangelt sich derzeit von einem Rekordtief zum nächsten. Zwischen 19,5 und maximal 22 Prozent hat sie sich zuletzt eingependelt - ein Desaster für die älteste Partei des Landes, die immer noch stolz den Anspruch einer Volkspartei vor sich herträgt. Fiele sie aber nur noch um weitere fünf Prozentpunkte, wäre dieser Titel hinfällig. Die Partei ist in eine Existenzkrise gerutscht, der Druck auf Gabriel und das Präsidium hat enorm zugenommen.

Er selbst konterte zuletzt sämtliche Spekulationen um seinen Verbleib im Amt und seine Ambitionen für den Bundestagswahlkampf 2017 mit einer Fußball-Analogie. Wenn eine Mannschaft mal nicht so gut spiele, gebe es immer eine Diskussion über den Trainer, sagte Gabriel sinngemäß. Das sei normal und auch gut so, meinte er kämpferisch. Doch als jemand, der seit seinem 17. Lebensjahr Politik für die SPD betreibt, zahlreiche Machtkämpfe gewonnen hat und auch schmerzliche Niederlagen einstecken musste, weiß er, wie gefährlich derlei Personaldebatten sein können. Und tatsächlich gibt es Überlegungen in der SPD, Gabriel loszuwerden. In Parteikreisen werden Szenarien durchgespielt, welche Alternativen es zu dem 56-Jährigen gibt. Vielleicht ein Ministerpräsident oder Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz an der Parteispitze, Europaparlamentspräsident Martin Schulz als Kanzlerkandidat? Die Spekulationen sind wild und widersprüchlich. Klar ist nur: Niemand will sich derzeit auf eine Kampfabstimmung mit Gabriel einlassen, die er im "Spiegel" jüngst befürwortet hatte. Gabriel ist keiner, der kampflos aufgibt. Gleichzeitig sind sich alle in der Partei einig, dass es nicht noch einmal zum Putsch kommen dürfe. 1995 hatte Oskar Lafontaine in Mannheim gegen Rudolf Scharping intrigiert und war so zum Parteichef gewählt worden - ein bis dahin beispielloser Vorgang.

Nun ist es erst einmal etwas ruhiger um Gabriels Zukunft geworden. Bei der Krisensitzung gestern in Berlin habe man über Leitlinien für den Bundestagswahlkampf gesprochen, hieß es. Von den Länderchefs kamen Anregungen etwa zum sozialen Wohnungsbau und Gabriels Solidarprojekt, nicht aber zur Rolle des Vorsitzenden. Gabriel selbst habe jedoch nach Teilnehmerangaben gesagt, dass es bei Umfragewerten von 20 Prozent ein "Weiter so" nicht geben könne. In den kommenden Wochen will er den Vertretern der verschiedenen SPD-Flügel seine Strategie für den Wahlkampf vorlegen.

Dass sich die Partei nach außen nun wieder mehr auf Zusammenhalt besinnt, freut vor allem die mächtigen Genossen in Nordrhein-Westfalen. Mit rund 112.000 von insgesamt einer halben Million Mitgliedern ist der Landesverband der stärkste der gesamten Partei. Die NRW-SPD ist die Machtbasis der Sozialdemokraten in ganz Deutschland, entsprechend groß ist der Einfluss von Hannelore Kraft als Landeschefin und Ministerpräsidentin.

Doch in einem Jahr, nicht einmal fünf Monate vor der Bundestagswahl, will sie im Amt bestätigt werden. Ihr kann nicht daran gelegen sein, dass die SPD sich gerade jetzt im NRW-Wahlkampf auf der Suche nach einem Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl selbst zerfleischt. Aus ihrer Sicht kann es nur schaden, wenn die Debatte über Gabriel ausgerechnet in ihrem Wahlkampf neu aufbricht. Kraft setze sich daher in Berlin, aber auch in Düsseldorf sehr dafür ein, die innerparteiliche Harmonie zu wahren: "Wenn Gabriel in Berlin unter Beschuss ist, dann zieht Kraft die Dinge in der NRW-Fraktion glatt", heißt es in nordrhein-westfälischen SPD-Kreisen. Und solange die NRW-Ministerpräsidenten zum Parteichef stünden, da sind sich führende SPD-Politiker einig, könne Gabriel nicht viel passieren.

Trotzdem ist offen, wann die SPD ihren Kanzlerkandidaten ernennt - vor oder nach der NRW-Wahl. Kein Szenario überzeugt dabei vollends: Kommt die Ernennung vorher, könnte ein unbeliebter Kandidat auf Hannelore Kraft negativ abfärben und in Debatten ähnlich zerrieben werden, wie es 2013 Peer Steinbrück passierte. Stellt die SPD aber erst nach der NRW-Wahl am 14. Mai ihren Kandidaten vor, könnte die K-Debatte den Landes-Wahlkampf überdecken. Nach der Krisensitzung im Willy-Brandt-Haus sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley gestern, die SPD wolle ihren Kanzlerkandidaten nach der Wahl in NRW offiziell nominieren. Einflussreiche Genossen wie etwa SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel halten es hingegen für sinnvoll, den Bürgern vor der Landtagswahl klar zu sagen, wer für die SPD ins Rennen geht. Die Debatte geht also weiter.

(jd)
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