Kampf um Unabhängigkeit Der Mythos der katalanischen Nation

Barcelona · Am Dienstag ist in Katalonien zu einem Generalstreik aufgerufen worden. Der Kampf um die Unabhängigkeit von Spanien eskaliert. Doch der Traum der katalanischen Separatisten von einem eigenen Staat hat eine lange Geschichte - diese wurde allerdings kräftig zurechtgebogen.

 Massenproteste vor dem Polizeipräsidium in Barcelona.

Massenproteste vor dem Polizeipräsidium in Barcelona.

Foto: rtr, SP/ems/FL

Jedes Mal, wenn bei einem Heimspiel des FC Barcelona die Leuchtanzeige im monumentalen Stadion Camp Nou auf 17 Minuten und 14 Sekunden vorrückt, spielt das Geschehen auf dem Rasen für viele der 100.000 Zuschauer einen Augenblick lang nur noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen schallt tosend ein politischer Schlachtruf von den Rängen: "Independencia!" - Unabhängigkeit!

Die 17 Minuten und 14 Sekunden stehen für das Jahr 1714 - in den Augen der Separatisten die Geburtsstunde der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Damals, vor mehr als 300 Jahren, standen die Katalanen dummerweise im Spanischen Erbfolgekrieg (1701 bis 1714) im falschen Lager. Der katalanische Adel, der um den Fortbestand seiner Privilegien fürchtete, hatte sich auf die Seite der bis dahin in Madrid regierenden Habsburger geschlagen, die den blutigen dynastischen Schlagabtausch jedoch gegen die Bourbonen verloren. Deren Truppen nahmen Barcelona am 11. September 1714 ein - dieser Tag der Kapitulation wird seit 1980 als katalanischer Nationalfeiertag ("Diada Nacional de Catalunya") begangen.

So wurde die bittere Niederlage aus dem 18. Jahrhundert im Nachhinein kräftig verklärt und politisch aufgeladen: Glaubt man glühenden Anhängern der Unabhängigkeit, dann zerstörte der Einmarsch der Bourbonen 1714 eine blühende Nation, die schon beinahe demokratische Züge trug. Das ist Unfug, aber die katalanische Identität saugt bis heute Kraft aus solchen Mythen.

Wie übrigens auch aus einer anderen historischen Begebenheit, die ebenfalls im Zusammenhang mit dem Ringen um die Vorherrschaft in Europa stand: Während des französisch-spanischen Kriegs (1635 bis 1659) kam es am Fronleichnamstag 1640 in Barcelona zu einem Aufstand katalanischer Bauern, die unter hohen Kriegssteuern und der Einquartierung kastilischer Truppen litten. Beim "Aufstand der Schnitter" (Guerra dels Segadors) wurde der katalanische Vizekönig getötet, der Statthalter der kastilischen Zentralregierung. Der damalige Präsident der katalanischen Ständeversammlung rief kurzerhand die katalanische Republik aus, aber als die sozialen Unruhen sich weiter ausbreiteten und radikalisierten, bekamen die Mächtigen Kataloniens schnell kalte Füße und flüchteten sich in starke Arme. Die Ständeversammlung wählte den französischen König Ludwig XIII., den bisherigen Kriegsgegner, zum Grafen von Barcelona und damit zum Herrscher von Katalonien.

Die katalanische Nationalhymne "Els Segadors" fußt auf dem gescheiterten Bauernaufstand

Eine im Grunde wenig rühmliche Episode, die aber ebenfalls zum Gegenstand nationalistischer Verklärung geworden ist: Die aktuelle katalanische Nationalhymne "Els Segadors" rückt den gescheiterten Bauernaufstand aus dem 17. Jahrhundert in ein romantisch-patriotisches Licht.

Eine politische Sonderrolle errang die Region, die sich im 19. Jahrhundert schnell zum industriellen Herzen Spaniens entwickelt hatte, aber erst 1932. Damals beschloss das spanische Parlament ein Autonomiestatut für Katalonien. Erstmals wurden Katalanisch und Kastilisch als offizielle Sprachen gleichgestellt. Vielen katalanischen Nationalisten war das aber nicht genug. Am 6. Oktober 1934 versuchte die Regionalregierung in Barcelona, Kapital aus der politisch instabilen Lage im Land zu schlagen, und rief einseitig eine katalanische Republik aus. Doch Madrid ließ sich nicht überrumpeln: Die Regionalregierung wurde kurzerhand aufgelöst, einige Separatisten verhaftet.

Es machte keinen großen Unterschied; die katalanische Republik hätte wohl ohnehin nicht lange existiert. Denn bald darauf brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Im Januar 1939 endete der blutige Konflikt, und zwar erneut mit einer Eroberung von Barcelona, das im Krieg zu einer Hochburg der Republikaner und speziell der Anarchisten geworden war. Wieder einmal standen die Katalanen auf der Seite der Besiegten. In den vier Jahrzehnten der Franco-Diktatur bekamen sie das zu spüren: Bis zum Tod des Caudillo am 20. November 1975 wurden in Spanien sämtliche regionalen Autonomiebewegungen strikt unterdrückt, die katalanische freilich mit besonderer Härte.

Mit der Gleichrangigkeit des Katalanischen als offizieller Amtssprache war es ebenfalls vorbei, auch wenn vom "kulturellen Genozid", als den katalanische Nationalisten die Franco-Ära verteufeln, nicht die Rede sein kann. Katalanisch zu sprechen oder zu schreiben war unter Franco nie grundsätzlich verboten. Trotzdem hält sich bis heute die Erzählung, dass unter der Diktatur streng bestraft wurde, wer Katalanisch sprach.

Die Politisierung der Sprache durch die Nationalisten ist nicht verwunderlich: Katalanisch ist im Gegensatz etwa zu Baskisch oder Galizisch seit Jahrhunderten eine wichtige Kultur- und Literatursprache. Nur über sie lässt sich der Anspruch begründen, es gebe so etwas wie eine katalanische Nation. Politisch und ökonomisch dagegen hat die Region zu viele Wandlungen durchlaufen, als dass man von Kontinuität sprechen könnte.

Und auch die Unabhängigkeitsbewegung hat sich ständig gewandelt. Die Ursprünge des modernen katalanischen Nationalismus im 19. Jahrhundert waren bürgerlich-konservativ. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es dann einen links-nationalen Schwenk, bevor nach dem Ende der Diktatur wieder liberal-konservative Regionalpolitiker den Ton angaben. Seit der Jahrtausendwende rücken die "Independentistas" dagegen wieder nach links. Es ist eine vielfältige Bewegung. Nur im Camp Nou, in der 18. Spielminute, da sind sie sich alle einig.

(ber)
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