Istanbul Schwere Foltervorwürfe gegen Erdogan

Istanbul · Seit dem Ausnahmezustand in der Türkei häufen sich Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen.

Schläge, Misshandlungen, Folter - die Vorwürfe erinnern an dunkelste Zeiten der Militärherrschaft und an den schockierenden Gefängnisfilm "Midnight Express", der das Image der Türkei extrem schädigte. Gestern legte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in Istanbul einen Bericht über Folter im türkischen Polizeigewahrsam während des Ausnahmezustands seit dem gescheiterten Militärputsch vom Juli vor. Anhand von 13 Fällen dokumentiert die Organisation Schläge und angedrohte Vergewaltigungen in verschiedenen Haftanstalten. Bisher hat Ankara alle Foltervorwürfe strikt zurückgewiesen. Mehr als 35.000 Menschen sind seit dem Putschversuch in der Türkei inhaftiert worden, die meisten, weil sie als "Gülenisten" verdächtigt werden - Anhänger des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, den die Regierung als Drahtzieher des Umsturzversuchs betrachtet. Schon kurz nach den ersten Verhaftungswellen erklärten Menschenrechtler, dass Festgenommene gefoltert würden. Dabei galt die De-facto-Abschaffung der Folter vor zehn Jahren durch verschiedene Strafrechtsreformen als eine der größten Errungenschaften der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP des jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ihre Wiederkehr wäre ein krasser zivilisatorischer Rückschritt.

Präsident Erdogan hatte per Dekret die Verlängerung der Untersuchungshaft von vier auf 30 Tage verfügt, der Kontakt zu einem Anwalt darf Festgenommenen fünf Tage lang verwehrt werden. Schutzrechte aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden "ausgesetzt". Die Regierung stelle den Behörden damit einen "Blankoscheck" aus, um "Inhaftierte zu foltern und zu misshandeln, wie sie wollen", sagte der HRW-Europa-Direktor Hugh Williamson. Es herrsche ein "allgegenwärtiges Klima der Angst", in dem auch Anwälte und Aktivisten Furcht davor hätten, als nächste verhaftet zu werden.

Konkret dokumentiert die Organisation in ihrem Bericht Folter, Misshandlungen und Demütigungen im Polizeigewahrsam in Ankara, Istanbul, Antalya und Sanliurfa. Demnach wurden die Insassen geschlagen, sexuell missbraucht, in schmerzhaften Positionen gehalten und ihnen die Vergewaltigung von Verwandten angedroht. In mehreren Fällen habe die Polizei damit offenbar Geständnisse erzwingen wollen. Ärzte seien zudem dazu gezwungen worden, Berichte zu unterschreiben, in denen Folter und Misshandlung verschwiegen werden.

Der Bericht basiert auf Gesprächen mit mehr als 40 Anwälten, Menschenrechtsaktivisten, früheren Gefangenen, Medizinern und forensischen Experten.

(RP)
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