Istanbul Regierungskritische Journalisten in Türkei aus Haft entlassen

Istanbul · Die Entscheidung des Gerichts ist wie eine Ohrfeige für Erdogan und seine Anhänger: Dündar und Gül hätten nur ihre Arbeit gemacht.

Auch im Gefängnis hat sich Can Dündar seinen Sinn für Ironie bewahrt. Als der Chefredakteur der türkischen Oppositionszeitung "Cumhuriyet" am gestern Morgen auf Weisung des Verfassungsgerichts aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, galt einer seiner ersten Sätze seinem Erzfeind, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Der Präsident, der maßgeblich an der Inhaftierung Dündars beteiligt war, feierte gestern seinen 62. Geburtstag. "Wir gratulieren ihm zum Geburtstag", sagte Dündar - und fügte hinzu: "Und wir freuen uns, dass wir ihn mit der Freilassung feiern dürfen". Dündar und der Leiter des Hauptstadtbüros seiner Zeitung, Erdem Gül, waren in Haft genommen worden, weil sie über angebliche Waffenlieferungen der Türkei an syrische Rebellen berichtet hatten. Erdogan persönlich hatte Strafanzeige wegen angeblicher Spionage gestellt und öffentlich erklärt, Dündar werde einen hohen Preis für die Veröffentlichung zahlen. Im bevorstehenden Prozess drohen Dündar und Gül lebenslange Haftstrafen. Ob das Verfahren gegen beide, das am 25. März beginnt, noch wie von Erdogan und der Staatsanwaltschaft geplant stattfinden kann, ist ungewiss. Denn die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist wie die Freilassung der Journalisten selbst eine Ohrfeige für Erdogan. Die Richter betonten nicht nur, dass die Untersuchungshaft eine Rechtsverletzung darstellte, sie unterstrichen auch, dass Dündar und Gül lediglich ihre Arbeit als Berichterstatter taten. Damit ging das Gericht an den Kern der Argumentation, mit dem das Erdogan-Lager die Inhaftierung von kritischen Journalisten begründet. Die Haft werde nicht wegen journalistischer Arbeit angeordnet, sondern wegen Vergehen wie Terrorpropaganda oder eben Geheimnisverrat, sagen der Präsident und seine Partei AKP. Doch dieser Hinweis wurde jetzt von den obersten Richtern vom Tisch gewischt.

Zudem hatte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu selbst vor wenigen Tagen die Berichte von Dündar und Gül indirekt bestätigt. In einem Interview mit dem Sender Al Dschasira hatte Davutoglu gesagt, es sei nur der türkischen Unterstützung für die syrischen Rebellen zu verdanken, dass syrische Regierungstruppen nicht überall im Land aktiv sein könnten. Beobachter hoffen nun auf das Ende einer Ära wachsender Eingriffe in die Meinungsfreiheit. Rund 30 Journalisten seien noch in Haft, sagte Dündar. Doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass Erdogan und die Regieurng ihre harte Linie gegen Kritiker aufgeben: Wenige Stunden nach der Freilassung wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft in Ankara die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu beantragt hat. Kilicdaroglu soll wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung vor Gericht gestellt werden. Gleichzeitig forderte die Anklagebehörde, den regierungskritischen TV-Sender IMC aus dem Programm zu nehmen.

(RP)
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