Düsseldorf Protestanten definieren die Familie neu

Düsseldorf · Die Ehe ist eine gute Gabe Gottes, sagt die evangelische Kirche, aber nicht alleiniges Leitbild – ein kühner Traditionsbruch.

1522 war die Welt noch übersichtlich. "Es ist nicht ein freies Ermessen oder Ratschluss", schrieb damals Martin Luther in "Vom ehelichen Leben", "sondern ein notwendig, natürlich Ding, dass alles, was ein Mann ist, ein Weib haben muss, und was ein Weib ist, muss einen Mann haben." Luther begründete das mit dem Auftrag Gottes aus der Schöpfungsgeschichte: "Seid fruchtbar und mehret euch."

Patchwork-Familien oder homosexuelle Lebenspartnerschaften beschäftigten Luther noch nicht. 2013 dagegen ist das Familienbild in vollem Wandel. Wie aber verträgt sich das mit dem biblischen Zeugnis? Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat dazu eine "Orientierungshilfe" herausgegeben, die um ein zeitgemäßes Verständnis von Ehe und Familie ringt.

Ihr Kern: Familie ist nicht nur traditionelle Ehe, sondern jede Gemeinschaft, in der Menschen in Liebe verlässlich Verantwortung übernehmen. Aufgezählt werden Eltern mit leiblichen oder angenommenen Kindern, Patchwork-Familien, kinderlose Paare, die ihre Eltern pflegen, Schwule und Lesben mit Kindern aus früheren Beziehungen.

Da das quersteht zu manch harschem Buchstaben der Schrift, beruft sich die EKD mit durchaus hintergründiger Dialektik ausgerechnet auf Luther, der bei aller Bibeltreue die Ehe auch als "weltlich Ding" verstand, dessen Ausgestaltung eben den Partnern obliege. Man wolle zur Diskussion anregen, sagt der EKD-Ratsvorsitzende, der frühere rheinische Präses Nikolaus Schneider – Schneider, der 43 Jahre mit seiner Frau Anne verheiratet ist, der aber auch als Kind aus kommunistischem Hause und alter 68er eine für Kirchenverhältnisse vergleichsweise wilde, jedenfalls untypische Biografie vorzuweisen hat: eine eigene Pointe.

Der Paukenschlag im Familienpapier kommt früh. "Ein normatives Verständnis der Ehe als ,göttliche Stiftung' und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus der Schöpfungsordnung entsprechen nicht der Breite des biblischen Zeugnisses", konstatiert beherzt das erste Kapitel. Vielmehr gebe es "Patchwork-Konstellationen" (Abraham mit seinen Frauen Sarah und Hagar), Gemeinschaften aus Geschwistern (Maria und Martha), generationenübergreifende Modelle (Rut, ihre Schwippschwägerin Orpa und beider Schwiegermutter Noomi) und, ja, auch "zärtliche Beziehungen zwischen Männern", wobei allerdings die Quelle schamhaft verschwiegen wird. Vielleicht dachte man ja an David und Jonathan ("Deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist").

Auch aus dem Neuen Testament ziehen die Verfasser Argumente für ein vielfältiges Familienverständnis: Jesu Ehelosigkeit, die Zurückweisung der Eltern, als sie den Zwölfjährigen im Tempel lehrend aufspüren, und sein Aufruf an die Jünger, ihre Familien zurückzulassen.

Daraus wird ein weitgehender Schluss gezogen: Die Ehe sei "eine gute Gabe Gottes, die aber nicht als einzige Lebensform gelten kann". Dass nach evangelischem Verständnis die Ehe kein Sakrament ist, sondern "Gemeinschaft unter dem Segen Gottes", fordere "die vorfindlichen Ordnungen immer neu heraus". Weniger geschraubt heißt das: Die Auslegung entscheidet, nicht der biblische Buchstabe.

Die EKD wechselt damit sozusagen vom Formalismus zum Funktionalismus – nicht mehr das Behältnis einer Gemeinschaft bestimmt die Bewertung, sondern ihr Gehalt. Breit wird die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts behandelt, das in Sachen homosexueller Partnerschaften zuletzt genauso argumentierte. Konsequenz für Schneider: Mann, Frau und Kind(er) – das sei zwar "das Modell, das wir wollen". Aber man müsse "nicht gegen die Homo-Ehe sein, um die Hetero-Ehe zu retten".

Die katholische Kirche in Person ihres Familienbischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst aus Limburg erkennt darin eine Schmälerung der Bedeutung der Ehe "in ihrer unverwechselbaren Bedeutung". Auch innerhalb des Protestantismus trifft der Text auf Widerstand. Die konservative Konferenz Bekennender Gemeinschaften wirft der EKD gar vor, die Schrift "antibiblisch uminterpretiert" zu haben.

Evangelischen Sprengstoff birgt auch das Thema Homosexualität. Die Landeskirchen in Sachsen und Württemberg etwa streiten erbittert darüber, ob homosexuelle Pfarrer mit Partner im Pfarrhaus leben dürfen. Und selbst im liberalen Rheinland tut sich noch manche Gemeinde auch in Großstädten schwer, die (per Synodenbeschluss ermöglichte) Segnung homosexueller Paare im Gottesdienst ohne Einzelfallprüfung zu ermöglichen.

Hinzu kommt: Vieles von dem, was aus Hannover kommt, wird in den Landeskirchen schon automatisch mit Argwohn betrachtet. Es bedarf deshalb keiner prophetischen Gaben, um vorherzusagen, dass das Familien-Papier nicht auf ungeteilten Jubel stoßen wird. Aber das Unbehagen an dem Thema hat gute reformatorische Tradition. Wie schrieb doch Luther 1522? "Mir graut und ich predige nicht gern vom ehelichen Leben, deshalb, weil ich befürchte: wo ich's einmal recht anrühre, wird's mir und andern viel zu schaffen geben." Wie wahr.

(RP)
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