Ex-SPD-Kanzlerkandidat mit neuem Buch Peer Steinbrück: "Die Fetzen müssen fliegen"

Berlin · Am heutigen Mittwoch erscheint das neue Buch "Vertagte Zukunft" des ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. Darin kritisiert er die schwarz-rote Koalition in Berlin – und gibt sich zur eigenen Kanzlerkandidatur ungewohnt selbstkritisch.

Die besten Zitate von Peer Steinbrück
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Foto: dpa, Soeren Stache

Am heutigen Mittwoch erscheint das neue Buch "Vertagte Zukunft" des ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. Darin kritisiert er die schwarz-rote Koalition in Berlin — und gibt sich zur eigenen Kanzlerkandidatur ungewohnt selbstkritisch.

Der letzte Wahlkampf-Auftritt von Peer Steinbrück
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Foto: ap, Michael Probst

Die Buchpräsentation in einem Nebensaal des Berliner Ensemble-Theaters ist bis auf den letzten hölzernen Klappstuhl ausverkauft. Rund 200 Journalisten, Sozialdemokraten und Anhänger Peer Steinbrücks sitzen im Publikum. Dem Autor gefällt sein eigener Auftritt sichtlich. Er macht Witze, setzt pointiert ironische Spitzen, und er weiß, dass er es auch als Hinterbänkler der SPD-Fraktion noch kann — die politische Bühne Berlins bespielen.

Ähnlich hart und ungefedert wie die Stühle im Ensemble kommt Steinbrücks neues Werk "Vertagte Zukunft" daher, das er am Dienstagabend im Gespräch mit dem einstigen "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert präsentierte. Steinbrück übt darin scharfe Kritik an der Politik der Regierung. Und er zeigt sich in der Retrospektive seiner Kanzlerkandidatur ungewohnt selbstkritisch.

Kanzlerkandidatur eine "Sturzgeburt"

Doch, es gab sie: Zwölf denkwürdige Momente im Wahlkampf
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Foto: SZ-Magazin/ Alfred Steffen

"Meine Kandidatur für das Amt des Bundeskanzlers war ein Fehler", schreibt der 68-Jährige. Er nennt sie eine "Sturzgeburt", die sich am 28. September 2012 anbahnte, nachdem der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier in einem Hintergrundzirkel seinen Verzicht auf die Kandidatur hatte durchblicken lassen. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte im kleinen Kreis ohnehin erklärt, nicht gegen die populäre Kanzlerin Angela Merkel (CDU) antreten zu wollen. "Damit waren alle Schleusentore geöffnet, und ich musste schwimmen, bevor ich mir auch nur eine Badehose anziehen konnte", schreibt Steinbrück. Auf der Ensemble-Bühne nennt er das sarkastisch "sozialdemokratische Strategie".

In einem "Spiegel"-Interview hatte Steinbrück nun angemerkt, die Kandidatur sei sein eigener Fehler gewesen. Im Buch wiederum schreibt er, die Kandidatur sei Fehleinschätzungen bei sich und bei der Partei entsprungen. Etwa, dass er in der Mitte der Gesellschaft schon genug werde punkten können. Miese Umfragen seien durch "straffe Körperhaltung, Dauerlächeln und die ständige Wiederholung von Sprechblasen" überspielt worden, schreibt Steinbrück. Die Wahl sei für ihn bereits im Frühjahr 2013 verloren gewesen. Ein hausgemachtes SPD-Problem sei auch eine "gewisse Verklemmung gegenüber dem Erbe der Agenda 2010" von Gerhard Schröder.

Er habe sich zudem von seiner Beliebtheit als Klartext-Politiker blenden lassen, so Steinbrück. "Mit einer gewissen Koketterie rutschte ich also erneut in die politische Hexenküche", heißt es im Buch. Und so erreichte eine Fotostrecke im Magazin der "Süddeutschen Zeitung" fast Kultstatus, weil Steinbrück darin mit ausgestrecktem Mittelfinger zu sehen war.

Doch nicht nur zur Kanzlerkandidatur, auch zum aktuellen Kurs der Bundesregierung spart Steinbrück nicht mit Kritik — Deutschlands Zukunft werde eben vertagt, wie es der Titel des Buches nennt.

Warnung vor dem Rentenpaket

Die größten Niederlagen der SPD
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Foto: dpa, Uwe Anspach

Für die aktuelle Koalition hat Steinbrück darin gleich ein ganzes Paket an kritischen Anmerkungen geschnürt. Vor allem warnt Steinbrück vor dem von ihm mitgetragenen Rentenpaket mit Kosten von mindestens 160 Milliarden Euro bis 2030 und vor massiv steigenden Beitragssätzen. Im "Spiegel"-Interview sprach er sich daher gar für ein Aussetzen der Mütterrente und der Rente mit 63 für zwei Jahre aus.

"Halbzeug" nennt er die aktuelle Politik der großen Koalition und meint damit auch die von Wirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel erarbeitete Reform der Ökostrom-Förderung, die sich zu einem regulatorischen "Monster" entwickelt habe. Geradezu in Rage redete sich Steinbrück am Dienstag, als es um die politische Debattenkultur ging. "Die Fetzen müssen fliegen", mahnte Steinbrück an. Nur dann sei das Publikum aufmerksam und beteilige sich. Das gelte "insbesondere, wenn es um die Zukunft Europas geht", sagte Steinbrück.

Gesche Joost: "Kluge Einschätzung der Aufgaben"

Was seine Partei betrifft, mahnte er eine Aufarbeitung der krachenden Wahlniederlage von 25,7 Prozent im Jahr 2013 an. Das sei nicht ausreichend geschehen. Seine damaligen Mitstreiter in der SPD geben ihm aber auch heute noch Rückendeckung. Gesche Joost etwa, die heutige Internetbeauftragte der Bundesregierung in Brüssel, war einst Mitglied in Steinbrücks Schattenkabinett, zuständig für Netzpolitik. Zu den Themen im Buch sagte Joost, sie seien eine "kluge Einschätzung der Aufgaben, denen sich Politik heute widmen muss".

Steinbrück frage zu recht, ob Politik heute auf der Höhe der Zeit sei und schließt dabei die eigene Partei nicht aus. "Das unterstütze ich, mehr noch, Politik muss ein Stück voraus denken, um heute für zukünftige Entwicklungen die richtigen Weichen zu stellen", sagte Joost. Steinbrück sei "ein Vollblut-Politiker, wie man ihn nur noch selten trifft".

Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach war Teil des Schattenkabinetts. Steinbrück rege mit seinem Buch zum Nachdenken an, lobte Lauterbach. Mit dessen Vorschlägen sei er aber nicht einverstanden und er teile auch nicht die Forderung Steinbrücks nach dem Aussetzen der Rente mit 63 und der Mütterrente. "Es würde uns als Wortbruch ausgelegt, wenn wir kurz nach dem Beschluss der Rentengesetze diese nun wieder auf Eis legen würden", sagte Lauterbach.

(jd)
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