Düsseldorf Öffentliche Sorge und heimliche Sympathien

Düsseldorf · Ein britischer EU-Austritt würde die politischen Gewichte in Europa verschieben und überall den Populisten Auftrieb verschaffen.

Offiziell wünscht sich alle Welt, dass die Briten in der EU bleiben. Die Regierungen der übrigen 27 Mitgliedstaaten haben sich dafür ausgesprochen und auch wichtige Verbündete wie die USA. Aber mit dem möglichen Brexit verbinden sich neben öffentlicher Besorgnis auch heimliche Hoffnungen und politische Hintergedanken.

Frankreich Die französische Antwort auf die britische Entscheidung dürfte schnell und deutlich ausfallen. Präsident François Hollande nannte bereits eine neue Einwanderungspolitik als mögliche Konsequenz. So könnte Frankreich die vorgezogenen Grenzkontrollen auf der französischen Seite des Ärmelkanals beenden und Flüchtlinge ungehindert nach England weiterziehen lassen. Mit einer harten Reaktion will der Staatschef verhindern, dass das britische Referendum Schule macht, denn auch in Frankreich nimmt die EU-Skepsis zu.

Bis zu 40 Prozent der Franzosen würden einen Brexit begrüßen - so viele wie nirgendwo anders in der EU. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen nutzt die Abstimmung bereits, um auch in Frankreich ein Referendum zu fordern. "Wenn ich Britin wäre, würde ich für den Brexit stimmen, obwohl ich glaube, dass Frankreich tausendmal mehr Gründe hat auszutreten als das Vereinigte Königreich", sagte die Chefin des Front National. Auch wenn Franzosen und Briten in den vergangenen Jahrzehnten häufig miteinander stritten, beispielsweise um Agrarhilfen, dürfte London Paris als Partner fehlen. Denn der Nachbar ist ebenfalls Atommacht und Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Es bliebe als Alternative nur noch das deutsch-französische Tandem, das unter dem Sozialisten Hollande und der CDU-Politikerin Merkel in unterschiedliche Richtungen strebt.

Griechenland "Brexit" und "Grexit", die Kürzel reimen sich nicht zufällig. Sagen sich die Briten beim Referendum von der EU los, könnte auch der Grexit, ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion, schnell wieder auf die Tagesordnung kommen. Bisher hat der griechische Premierminister Alexis Tsipras von der Brexit-Debatte durchaus profitiert. "Bloß jetzt keine neue Griechenland-Krise" lautete die unausgesprochene Devise in Brüssel. Um die nächste Kreditrate rechtzeitig vor der britischen Volksabstimmung auszahlen zu können, kamen die Geldgeber der griechischen Regierung weit entgegen. So durfte Tsipras die Arbeitsmarktreform, politisch für ihn ein heißes Eisen, auf den Herbst verschieben. Votieren die Briten für den Austritt, dürften sich die Kräfteverhältnisse in der EU verschieben. Das gilt erst recht, wenn andere Länder dem britischen Beispiel folgen würden. Premier Tsipras käme damit auch innenpolitisch unter Druck. Bisher ist der Verbleib in der Eurozone und der EU ein zentrales Element seiner Politik. In seinem Linksbündnis Syriza gibt es allerdings nach wie vor starke anti-europäische Kräfte. Auch in der Bevölkerung wächst als Resultat des "Spardiktats" die Europa-Skepsis: Noch im Herbst 2011 hatten 63 Prozent der Griechen eine positive Meinung von der EU, jetzt sind es nur noch 27 Prozent.

Belgien Belgien wäre in der EU gemeinsam mit Irland der größte Verlierer eines Brexit. Die Wirtschaftsleistung würde nach einer Studie der ING-Bank um satte 1,5 Prozent einbrechen. Kein ernstzunehmender Politiker äußert daher Sympathien für das Pro-Brexit-Lager. Zudem beobachtet man im vom chronischen Streit zwischen Flamen und Wallonen gebeutelten Belgien, dass Großbritannien nach einem Austritt aus der EU der Zerfall droht. Die Schotten und auch die Nordiren könnten nach einem Brexit ihrerseits die Bevölkerung zu einer Abstimmung über den Verbleib im Vereinigten Königreich aufrufen.

Allerdings leisten sich Wallonen und Flamen auf der Basis des pro-europäischen Grundkonsenses gewisse Extratouren. Im wohlhabenderen und Niederländisch sprechenden Norden, wo die separatistische Partei NVA stark ist, gibt es ausgeprägte Sympathien für die EU-Kritik der Briten. Aber auch im frankophonen und wirtschaftlich in den vergangenen Jahren zurückgefallenen südlichen Landesteil, Wallonien, sind die Absetzbewegungen von der EU nicht zu übersehen.

Schweden Die Zustimmung der Schweden zur EU-Mitgliedschaft ihres Landes ist innerhalb eines halben Jahres dramatisch gefallen. Derzeit finden nur noch 39 Prozent, dass es eine gute Idee ist, dass ihr Land der EU angehört. Das sind 20 Prozentpunkte weniger als noch im Herbst, als 59 Prozent die EU-Mitgliedschaft klar befürworteten. Bei einem konkreten Referendum zum EU-Verbleib würden derzeit dennoch 44 Prozent für eine Fortsetzung der Mitgliedschaft stimmen, 32 Prozent dagegen. Sollten alledings die Briten für ein Verlassen der EU stimmen, gäbe es wohl einen Stimmungswandel. In diesem Fall wollen 36 Prozent der Schweden ebenfalls für einen Austritt stimmen und nur noch 32 Prozent für einen Verbleib in der Union. Immerhin würde Schweden bei einem Brexit einen wichtigen Verbündeten innerhalb der EU verlieren.

Beobachter vermuten, dass der Meinungsumschwung aber auch stark mit der Flüchtlingskrise zu tun hat. Schweden hat gemessen an seiner Einwohnerzahl noch vor Deutschland am meisten Flüchtlinge aufgenommen, während andere EU-Länder sich verbarrikadierten. Das hat dem Ansehen der EU insgesamt schwer geschadet. Zwar stehen bisher fast alle Parteien im schwedischen Parlament fest zur EU-Mitgliedschaft. Aber das taten sie auch beim Referendum zur Einführung des Euro 2003, und die Bürger stimmten dennoch für den Verbleib der Krone.

USA Von der "special relationship" zum Vereinigten Königreich ist zwar bisweilen noch immer die Rede im Weißen Haus, aber wenn, dann wissen alle Beteiligten, dass es sich eher um rhetorische Pflichtübungen handelt. Dass ein Großbritannien, das mit der EU bricht, auf der Prioritätenliste Washingtons weiter abrutschen dürfte, hat Barack Obama bereits im April ganz klar zu verstehen gegeben. Das Land müsste sich am Ende der Warteschlange einreihen, wenn es anstelle des angepeilten TTIP-Pakts ein eigenes Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten aushandeln wolle, sagte der Präsident. Wer weiß, wie mühsam es ist, solche Verträge durch einen US-Kongress zu bringen, in dem es an protektionistischen Stimmen nicht fehlt, kann ungefähr ermessen, welchen Hürdenlauf ein "Klein-Britannien" zu absolvieren hätte - zumal die großen Handelsblöcke in aller Regel Vorfahrt haben. Inzwischen haben 13 amerikanische Außenpolitiker von Rang in einem offenen Brief vor den Folgen eines Brexit gewarnt. Die Rolle des Königreichs in der Welt würde leiden, zugleich würde Europa empfindlich geschwächt, schrieben sie. Es ist nicht nur die Aussicht, dass jener Verbündete, auf den sich die Amerikaner fast blind verlassen können, seinen Aktionsradius empfindlich einschränkt.

Genauso ausgeprägt ist die Angst vor einem Dominoeffekt, dass womöglich bald andere EU-Mitglieder über ähnliche Referenden nachdenken. Nur spiegelt die Brexit-Debatte eben auch wider, wo im inneramerikanischen Diskurs die Gräben verlaufen. Eine Gruppe texanischer Separatisten, das "Texas Nationalist Movement", sieht in einem Großbritannien, das sich aus Brüssel verabschiedet, ein Vorbild, dem die Texaner nacheifern sollten, indem sie mit Washington brechen und die Unabhängigkeit ausrufen. Donald Trump hat wissen lassen, dass er einen Brexit begrüßen würde, zumal dessen Befürworter ähnlich wie seine eigenen Anhänger die Angst vor unkontrollierter Einwanderung umtreibe. Hillary Clinton hat vehement widersprochen, nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen. Ein Ja für den Brexit, fürchtet sie, würde Trump im Aufwind segeln lassen.

(RP)
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