Berlin Neuland für alle: Merkel derzeit ohne Macht

Berlin · Bei Neuwahlen will die Kanzlerin noch einmal antreten. Diese Amtszeit würde die schwerste - wenn es überhaupt so weit kommt.

In diesem bitteren Moment des Scheiterns bekommt Angela Merkel Beifall. Es wird geklatscht und gedankt. Es ist 1 Uhr morgens, die gesamte Führung von CDU und CSU hat sich hinter der 63-Jährigen versammelt, Fotos einer einsamen Kanzlerin können so gar nicht erst entstehen. Es ist tatsächlich ein Bild, das es in der phasenweise so zerstrittenen Union lange nicht mehr gegeben hat - in der Berliner Landesvertretung des grün-schwarz regierten Baden-Württemberg gestern am frühen Morgen.

Die FDP, der angebliche Lieblingspartner der Union, hat die Jamaika-Sondierungen platzen lassen und Deutschland in eine Krise gestürzt. Die Wirtschaft, das Ausland, die Bürger in Deutschland, die erst vor knapp zwei Monaten einen neuen Bundestag gewählt haben, müssen jetzt die Konsequenzen ausbaden. Über allem steht die Unsicherheit. Gift für Unternehmen, für Wähler und für internationale Partner. Die größte Volkswirtschaft in Europa, bekannt als Fels und Anker mit der mächtigsten Frau der Welt an der Spitze, erweist sich als instabil. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigt sich besorgt: "Es ist nicht in unserem Interesse, dass sich das verkrampft", sagt der junge Hoffnungsträger, der dringend deutsche Unterstützung für seine Reformpläne für die EU braucht. Scheitert er in Paris oder Brüssel, ist ein weiterer Rechtsruck in Frankreich zu befürchten.

Für EU-Partner ist es völlig neu, dass sie auf Deutschland warten oder Rücksicht nehmen müssen. Das schadet dem Ansehen der Republik und dem Vertrauen in Merkel, die seit zwölf Jahren regiert und die im September trotz empfindlicher Einbußen ihre vierte Bundestagswahl gewonnen und nun die Regierungsbildung nicht mehr in der Hand hat. Ein Treffen mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte sagt Merkel kurzfristig ab. Sie muss zum Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, ihrem früheren Außenminister von der SPD. Sie muss ihm darlegen, dass Neuwahlen drohen, wenn die SPD bei ihrem Nein zu einer großen Koalition bleibt. und auch die FDP nicht regieren will und als Alternative dann nur noch eine Minderheitsregierung bleibt. Rutte dürfte Verständnis haben. Er selbst brauchte sieben Monate für die Bildung einer Mitte-rechts-Koalition.

Merkel wird von Union und Grünen bescheinigt, dass sie in den vergangenen vier Wochen alles daran gesetzt habe, Verantwortung für das Land zu tragen. Und sie versichert: "Ich als Bundeskanzlerin, als geschäftsführende Bundeskanzlerin, werde alles tun, dass dieses Land auch durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird." Neben Merkel steht der Mann, der sie zwei Jahre vor sich her getrieben hat, der ihr eine "Herrschaft des Unrechts" vorwarf und ihr in der Flüchtlingspolitik mit Verfassungsklage drohte. Man traut seinen Ohren kaum, als CSU-Chef Horst Seehofer in der Nacht sagt: "Danke, Angela Merkel."

Es ist das einzige Mal, dass man die CDU-Chefin in diesen Stunden lächeln sieht. Ironie des Schicksals, dass die beiden monatelang verfeindeten Parteichefs jetzt in der Krise zusammenrücken beziehungsweise zusammengerückt werden. Beide sind seit dem vergleichsweise schlechten Wahlergebnis der Union von 32,9 Prozent angeschlagen. Seehofer wurde offen attackiert, die Nachfolge-Debatte ist längst entbrannt. Um Merkel blieb es nach außen still, nach innen brodelte es. Und jetzt, da der Wechsel an der Spitze der CDU und damit auch im Kanzleramt greifbar nahe wäre, weil Merkel durch die Blockade der FDP nicht mehr Herrin des Verfahrens ist, schweigen ihre parteiinternen Konkurrenten wie die Konservativen um den jungen Finanzstaatssekretär Jens Spahn.

Gerade jetzt könne die CDU nicht um den Vorsitz und eine neue Ausrichtung ringen, weil sie sich dann selbst zerlege, heißt es. Merkel müsse es noch einmal richten. Und im ARD-"Brennpunkt" sagt sie, im Falle von Neuwahlen sei sie bereit, die Union erneut in den Wahlkampf zu führen. Und in der ZDF-Sendung "Was nun, Frau Merkel?" erklärt sie, dass sie nach Abbruch der Jamaika-Gespräche nicht an Rücktritt gedacht habe. Ihr Satz aus dem Jahr 1998 ist vielen aber gegenwärtig: "Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Dann will ich kein halbtotes Wrack sein", hatte sie damals gesagt.

Der Physikerin wurde schon in der vorigen Wahlperiode zugetraut, dass sie als erste aller Regierungschefs im Bund ihren Abschied selbst organisiert und sich nicht herausdrängen lassen würde. Aber dann kam die Flüchtlingskrise, und Merkel fühlte sich für eine vierte Kanzlerkandidatur verantwortlich. Nun sieht sie sich in der Verantwortung, ihre Partei und das Land gut "durch diese schwierigen Wochen" zu führen. Noch nie standen nach einer Bundestagswahl so schnell Neuwahlen im Raum. Steinmeier mahnt aber: "Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält." Er will noch einmal mit SPD und FDP reden.

Die CDU wird wohl eine große Schmerztoleranz an den Tag legen. In ihren Reihen wird allen Ernstes erwogen, noch mal mit der FDP zu sprechen. In Bayern kann man sich sogar eine schwarz-gelbe Minderheitsregierung für den Bund vorstellen. Merkel aber, die FDP-Chef Christian Lindner noch nie vertraut hat, dürfte sich schwertun, mit ihm einen Pakt zu schließen. Schon gar nicht in einer Minderheitsregierung. Die passt ohnehin nicht zu der Kanzlerin. Mögen sich SPD und FDP auch vor der Verantwortung drücken, wie Steinmeier sagt - Merkel tut es nicht. Offen ist, ob sie auch ein fünftes Mal Erfolg hätte.

(kd)
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