Femen-Aktion in Köln Nackt im Dom als letzter Tabubruch

Köln · Die Femen-Aktivistin Josephine Witt (20) hat sich während des Weihnachtsgottesdienstes vor Kardinal Meisner halbnackt auf den Altar gestellt. Ein Protest, der die Würde missachtet und dem es an Respekt mangelt. Eine Analyse.

Femen-Aktion in Köln: Nackt im Dom als letzter Tabubruch
Foto: dpa, Elke Lehrenkrauss

Der Aktion folgte die Umfrage im Internet. Nachdem die 20-jährige Femen-Aktivistin Josephine Witt während des Weihnachtsgottesdienstes im Kölner Dom barbusig auf den Altar sprang und der Gemeinde ihren Oberkörper zur Ansicht gab — auf diesem war "I am God" (Ich bin Gott) gepinselt — durfte man alsbald im Netz über die Wahrheit dieser Aussage abstimmen. Und obwohl Weihnachten eine Zeit der Prophetie ist, entschied sich die Mehrheit dann doch gegen die göttliche Witt-These. Man hätte dazu auch den Erzbischof fragen können, vor dessen Augen sich die skandalträchtige Aktion abspielte. Doch Joachim Kardinal Meisner reagierte souverän. Er segnete wieder den Altar, setzte den Gottesdienst fort und schloss Josephine Witt am Ende auch in seinen Segensgruß ein: "Jeder hat den Segen verdient. Sogar die verwirrte Frau vorhin. Sie schließe ich mit ein, sie hat es wohl am Nötigsten." Es war der 80. Geburtstag von Kardinal Meisner und sein letzter Weihnachtsgottesdienst im Dom als Erzbischof.

Bei diesem Sachstandsbericht könnte man es eigentlich bewenden lassen — für eine Art Performance, die von fast allen Seiten als indiskutable Aktion bewertet wurde; für eine Frau, die sich barbusig zuletzt in der Talkshow von Markus Lanz einen Zugang zur Öffentlichkeit verschaffte und die jetzt wegen Störung der Religionsausübung und Hausfriedensbruch angezeigt wird. Also "kein übergroßes Bohei" mehr um diesen Auftritt machen, wie es sich Weihbischof Dominikus Schwaderlapp wünscht?

Das wäre fatal, weil mit dem Verschweigen nichts auf der Welt geschafft und darüber hinaus die Kraft dieser Protestbewegung unterschätzt wird. Femen-Aktionen sind in den meisten Fällen mehr als ein aggressiver Bruch mit den letzten, auch ethischen Tabuzonen unserer Gesellschaft und mehr als eine emotionale Grenzüberschreitung. Seit der Pussy-Riot-Aktion in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale im vergangenen Jahr spielen die sogenannten Aktivistinnen gezielt mit Ikonografien des Widerstands, die sich bildmächtig in unserem kulturellen Gedächtnis eingebrannt haben. Solche Performances hat der Theologe Joachim Willems jüngst in seinem Buch "Pussy Riots Punk-Gebet" als ein Phänomen gedeutet, das nicht unbedingt religionsfeindlich sein muss, doch stets über sich hinausweist.

Da ist vor allem das Motiv der entblößten Brust als ein Zentrum unserer Existenz. Die Brust ist Ort unseres langen Atems und Ausdruck unseres Selbstbewusstseins — wir können mit Stolz geschwellter Brust durchs Leben gehen. Die Brust ist aber auch das Symbol großer Freiheit und größter Verletzbarkeit. Wer sich schutzlos, frei und angreifbar machen will, der entblößt seine Brust.

Die Helden-Ikonographie ist voll davon. Mit der Barrikadengöttin im Gemälde "Die Freiheit führt das Volk" von Eugéne Delacroix (1798—1863) wird die barbusige und fahnenschwenkende Kämpferin sogar zu einem Nationalsymbol der Franzosen. Freier kann ein Volk kaum werden als in der von Kleidung und gängigen Moralvorstellungen entledigten Frau.

Die selbstbestimmte Handlung des Machtlosen

Und wie viele Freiheitskämpfer haben ihr Hemd aufgerissen vor dem Erschießungskommando? Natürlich durchdringt jede Kugel den Leinenstoff der Todgeweihten. Darum ist die Entblößung mehr eine radikale Geste der Selbstentäußerung. Und sie ist die letzte selbstbestimmte Handlung des Machtlosen. In ihr wohnt also immer auch ein Akt der Verzweiflung inne. Dass wir diese Bilder kennen, zeigt die Kraft und die Macht ihrer Sprache. Wer den Namen Francisco de Goya (1746—1828) hört, denkt oftmals auch an das dramatische Bild "Erschießung der Aufständischen". Mit dem Bild von der Exekution werden Märtyrer geschaffen.

Indem sich die Femen aus diesem ikonografischen Umfeld bedienen, versuchen sie, ihre Aktionen zu begründen und zu legitimieren. Und um spektakulär zu sein, werden Räume gesucht, die in vergleichsweise offenen Gesellschaften letzte Rückzugsorte allgemein verbindlicher Werte sind; dazu gehört der sakrale Raum von Kirchen, die Heiligkeit des Ortes. Wobei auch dort die Entblößung, besser gesagt: die Offenherzigkeit zum Bild wird. In der stillenden Mutter Gottes wird die nackte Brust zum Zeichen des Urquells allen Lebens.

Dieser Zweck heiligt nicht die Mittel

Protest und Widerstand gehören zu den Regulativen demokratischer Gesellschaften. Sie finden aber dort ein Ende, wo es an Respekt gegenüber anderen Menschen mangelt und deren Würde missachtet wird. Eine Aktion legitimiert sich nicht von vornherein dadurch, dass sie Performance genannt wird, dass sie sich der Bildsprache früherer Freiheitskämpfer bedient und diffuse Ziele ins Feld führt wie den Protest gegen das vermeintliche Machtmonopol der katholischen Kirche. Dieser Zweck heiligt nicht die Mittel. Und wem nichts mehr heilig ist, der trägt mit zu einer Entwertung des Lebens bei, dessen Folgen nicht mehr absehbar sind.

Und Kardinal Meisner? Seine souveräne Haltung nötigt großen Respekt ab, indem er die Situation — im besten Polizeideutsch: nicht eskalieren ließ. Er hat den Gottesdienst aber nicht deshalb fortgesetzt, um den Skandal schnell vergessen zu machen. Indem er den Altar erneut weihte und Josephine Witt den Segen gab, stellte er sich bewusst in den Dienst einer anderen, höheren Macht. Es gab an seinem 80. Geburtstag und seiner letzten Weihnachtsmesse Wichtigeres: den Gottesdienst, die Feier der Eucharistie und der Geburt Jesu. Der Bischof ist Zelebrant geblieben, hat von seiner Person ganz und gar abgesehen. Sich so radikal in den Dienst zu stellen, ist eine Haltung, die vielen Querköpfen, Erneuerern und Widerständlern gegen den jeweiligen Zeitgeist zu eigen ist. Zu glauben, Gott zu sein, ist dagegen eine Selbstbestimmung, die so stromlinienförmig zu unserer Zeit ist, wie sie sich Josephine Witt kaum vorstellen dürfte.

Update 27. Dezember, 13.50 Uhr:

Nach der Störung der Weihnachtsmesse dauern die Ermittlungen der Polizei an. Es liege eine Anzeige wegen Störung der Religionsausübung und Hausfriedensbruchs vor, sagte eine Polizeisprecherin am Freitag.

Zudem gibt es eine Anzeige wegen Körperverletzung der Frau selbst, die angegeben hat, von Sicherheitskräften und einem Kirchenbesucher geschlagen worden zu sein.

(RP)
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