Addis Mit Tennis den Slums entkommen

Addis · Entwicklungshilfe mal anders: Leistungssport soll Kinder in Äthiopien befähigen, sich aus der Armut zu befreien.

Abeba In Äthiopien träumen Millionen Jungen und Mädchen davon, der Armut davonzulaufen. Das dies möglich ist, zeigte ihnen die äthiopische Lauflegende Haile Gebrselassie. 1973 als achtes von zehn Kindern einer armen Bauernfamilie geboren, beendete er seine Karriere 42 Jahre und 26 Weltrekorde später als einer der reichsten Äthiopier. Für Millionen ist der Läufer das Vorbild. Doch jetzt macht auch eine andere Sportart Kindern im 15-ärmsten Land der Welt Hoffnung: Tennis. Ausgerechnet der Sport, den die britische Kolonialmacht nach Afrika brachte, soll sie aus der Armut führen. Unterstützt wird das ehrgeizige Projekt von deutschen Tennis-Spielern. Aber ist der weiße Sport wirklich das, was das Land, in dem gerade mal wieder eine Hungersnot droht, am dringendsten braucht?

"Komm, lauf, den kriegst Du!" Tariku Tesfaye quält Sara Kasahun. Der Trainer schickt die Zwölfjährige an den äußeren rechten Spielfeldrand, der nächste Ball landet ganz links. "Los, Sara, schneller". Tesfaye kennt keine Gnade. Dabei liebt der verschmitzt lächelnde Trainer die Kinder, die in der dünnen Luft der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba auf fast 3000 Meter Höhe den Bällen hinterherhetzen, so als wären es seine eigenen. Wie jeder Vater möchte er für sie nur das Beste. Darum quält er sie.

Tesfaye hat keinen eigenen Nachwuchs, dafür 75 "Tennis-Kinder". Alle kommen aus besonders armen Familien, die meisten von ihnen haben bis vor einigen Jahren noch nie einen Tennisschläger gesehen, geschweige denn in der Hand gehalten. In vielen der Jungen und Mädchen erkennt Tesfaye sich selbst.

Er war zehn Jahre alt, als er vor 28 Jahren in Addis Abeba auf einem Tennisplatz für die äthiopische Oberschicht und reiche Ausländer den Bällen hinterherrannte. Allerdings ohne Schläger. Als Balljunge verdienten er und sein Bruder Desta damals ein paar Münzen und einige kleine Scheine, um sich Hefte, Stifte und Uniformen für die Schule leisten zu können. Wenn die Spieler verschnaufen mussten, durften Tariku und Desta mit ihren Schlägern ein paar Bälle über das Netz schlagen. Schnell bemerkten die Spieler das Talent der Balljungen und unterstützten die beiden armen Brüder. Bald waren die Balljungen die besten Spieler im Verein, kurz darauf Nationalspieler.

"Weil wir gefördert wurden, haben wir gutes Geld verdient und etwas von der Welt gesehen. Deshalb wollten wir etwas zurückgeben", sagt Tesfaye. Also zog er vor 15 Jahren mit seinem jüngeren Bruder, ein paar alten Tennisschlägern und Bällen das erste Mal in die zahlreichen Slums in der äthiopischen Hauptstadt und fragte die Kinder: "Wer hat Lust, Tennis zu spielen?" Die Kinder, die die seltsamen Sportgeräte noch nie gesehen hatten, waren zuerst misstrauisch. Doch schon bald konnten die Brüder aus 120 Jungen und Mädchen die talentiertesten 20 auswählen. Mit ihnen trainierten sie eine Woche später das erste Mal auf dem Platz, auf dem sie 24 Jahre zuvor selbst die ersten Bälle getroffen hatte. Alle Kosten übernahmen zunächst Tariku und Desta Tesfaye.

Aber ist Tennistraining wirklich das, was äthiopische Slumkinder am dringendsten brauchen? "Natürlich nicht", antwortet Tesfaye. "Und darum haben wir den Sport auch von Anfang an ganz eng mit der Schule verknüpft. Denn wir alle wissen: Nur mit Bildung kann Äthiopien die Armut überwinden. Dazu braucht es Disziplin, Durchhaltevermögen und den Glauben an sich selbst. Und diese Eigenschaften erlernen die Kinder beim Tennis", sagt der 38-Jährige. Zusammen mit seinem Bruder hat er eine Hilfsorganisation gegründet. Lauflegende Haile Gebrselassie wurde einer der ersten Unterstützer.

Die von des Tesfayes geförderten Jungen und Mädchen erhalten nicht nur vor und nach der Schule kostenloses Training und eine warme Mahlzeit am Tag, auch alle Schulmaterialien werden bezahlt, einigen Schülern wird zudem der Besuch weiterführender Privatschulen ermöglicht. Zudem bekommen die Kinder in einem mit Medaillen, Pokalen und Urkunden vollgestopften Raum neben den beiden Tennisplätzen Nachhilfe- und Zusatzunterricht. "In Äthiopien gibt es unzählige Hilfsorganisationen. Viele geben den Kindern einfach nur Essen. Wir geben ihnen neben Essen auch Bildung, Tennistraining und ein Ziel. Aber dafür fordern wir von ihnen auch viel", sagt Tesfaye.

Während viele skrupellose Talentscouts in Südamerika und Afrika die Bildung der jungen Sportler vernachlässigen, steht bei Tesfaye die Schule noch vor dem Sport. Wenn die Leistungen dort einbrechen, werden die Kinder solange vom Training ausgeschlossen, bis die Noten wieder stimmen. Nicht trainieren zu dürfen, ist für die Kinder die Höchststrafe, entsprechend strengen sie sich im Unterricht an. "Auch wenn einige unserer Kinder eines Tages wohl besser sein werden, als ich es je war, ist es unwahrscheinlich, dass eines von ihnen Wimbledon gewinnt. Umso wichtiger ist es, dass sie in der Schule Erfolg haben", sagt Tesfaye, der ein Angebot, als Trainer nach China zu gehen, ausschlug, um sich ganz den Kindern widmen zu können.

Dass schulischer und sportlicher Erfolg sich nicht ausschließen, stellt Gebre Yonas, der bislang erfolgreichste Teilnehmer des Tennisprojektes, unter Beweis. Dem Jungen aus einer extrem armen Familie gelang es mit Unterstützung des Tennisprojektes, den besten Abschluss an einer englischsprachigen High-School in Addis Abeba zu machen. Mit einem Stipendium für herausragende Sportler studiert Yonas mittlerweile an einer amerikanischen Universität Betriebswirtschaft und spielt für das College-Team Tennis.

"Yonas ist für mich ein großes Vorbild. Aber noch besser finde ich Serena Williams. Sie ist so selbstbewusst und diszipliniert. Ich möchte einmal so sein und so spielen wie sie", sagt Sara Kasahun, als sie nach dem Training wieder zu Atem gekommen ist. Serena Williams gilt als die beste Tennisspielerin aller Zeiten. Sara wuchs nach dem Tod ihrer Mutter bei einem Onkel in einem Armenviertel in Addis Abeba auf. Wäre dort eines Tages nicht zufällig Tariku Tesfaye mit den gelben Bällen und den seltsamen Schlägern vorbeigekommen, würde Sara wohl heute noch nicht wissen, wer Serena Williams ist. So träumt sie davon, die Amerikanerin irgendwann als Nummer eins der Weltrangliste zu beerben. Damit ihr Traum Wirklichkeit werden kann, wird sie sich morgen früh vor der Schule wieder über den Tennisplatz hetzen lassen.

(RP)
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