Berlin Merkels neue Zeitrechnung

Berlin · Sie hat ihre vierte Kanzlerkandidatur mit Neugier begründet. Die Opposition sieht darin aber noch keine neue Politik. Sie wirft Merkel ein "Weiter so" vor. Was verbindet: die Sorge vor den Populisten.

Es ist ihre x-te Regierungserklärung und doch ihre erste. Die Rede einer neuen Zeitrechnung. In der Generalaussprache über den Bundeshaushalt, der traditionellen Abrechnung der Opposition mit dem Kanzleramt. Es ist der erste Auftritt Angela Merkels im Parlament nach ihrer Ankündigung, auch 2017 für die Union anzutreten. Im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft - für ihren schwierigsten Wahlkampf. Mit all den neuen Anfeindungen durch Populisten und eine von Hassbotschaften im Internet veränderte Meinungsbildung.

Merkel hatte am Sonntag, dem Tag ihrer Ankündigung, noch gesagt, dass sie Neugier verspüre. Neugier, ein neues Wort von ihr. Ungewöhnlich für eine Frau, die seit 26 Jahren Politik macht. Neugierde war gestern dann in ihrer mit 40 Minuten vergleichsweise langen Rede aber weniger zu spüren. Mehr die gewohnte Geschäftsmäßigkeit der Kanzlerin beim Durchdeklinieren schwerster Themen.

Die 62-Jährige bleibt überwiegend dabei, ihre großen Linien für das Land aufzuzeigen: die Achtung der Werte wie Freiheit und Recht - ohne den künftigen US-Präsidenten Donald Trump auch nur einmal zu erwähnen. Den nötigen "Gesprächsfaden" mit der Türkei, die Kritik an Russlands Kriegspolitik in Syrien, die Chancen der Globalisierung, die Notwendigkeit internationaler Handelsabkommen, die gute Wirtschaftslage in Deutschland. Es sei ein Haushalt der sozialen Marktwirtschaft und sozialen Gerechtigkeit. Ja, auch wenn "ich weiß, dass viele Menschen Not haben".

Die Kanzlerin will weg vom Negativen, will Errungenschaften nennen, um das Land nicht miesmachen zu lassen. Sie ist aber einfach nicht der emotionale Typ, den sich manche jetzt als Gegengewicht zu Populisten wünschen. Auch wenn sie sich Mühe gibt, einfacher zu formulieren, fast frei spricht und wie selten auf die Linke eingeht.

Auf deren Zwischenruf, wonach das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen eine "Schande" sei, hält Merkel aber inne und warnt: "Ganz vorsichtig." Es würden Menschen gerettet und Schlepper gefasst. Merkel bezeichnet auch die Rede von Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht als ein "Stück Populismus". Für ihre Verhältnisse ist das viel - im Ringen um Menschen aber noch wenig, fürchten Unionspolitiker.

Wagenknecht hatte die schwarz-rote Koalition zum Aufakt der Debatte verteufelt. Ihre Schlagworte: Raubtierkapitalismus, großkoalitionäre Einheitspolitik, demoliertes Sozialsystem, Zweiklassenmedizin, ein chronisch unterfinanziertes Bildungssystem, keine Frischluft in muffigem Konsens. "Der einfache Bürger kämpft ums Überleben", ruft sie. Der Satz, der ihr dann aber vor allem den Zorn ihres SPD-Kollegen Thomas Oppermann einbringt, ist dieser an die Bundesregierung gerichtete: "Offenbar hat ja selbst noch ein Donald Trump wirtschaftspolitisch mehr drauf als Sie."

Der SPD von Vizekanzler Sigmar Gabriel dürfte nach der Aussage erst einmal wieder klar geworden sein: Mit dieser Linken würde es schwer, ein rot-rot-grünes Bündnis zu verwirklichen.

Was Wagenknecht und Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter eint: Merkel wolle trotz aller Konflikte "weiter so" machen. Doch Hofreiter bietet anders als Wagenknecht seine Partei als Helfer an. "All das ist politisch änderbar", sagt er an Merkel gerichtet. Womöglich in einer schwarz-grünen Koalition?

Die Kanzlerin haut auch an diesem Tag nicht so auf den Putz, wie es die CSU zur Abwehr der AfD für nötig hält. Sie lobt im Rückblick auf die Flüchtlingskrise 2015 noch einmal den Zusammenhalt vieler Menschen im Land, sie zählt die Verschärfungen in der Asylpolitik auf und mahnt, dass abgelehnte Asylbewerber auch abgeschoben werden müssten. Viel Applaus aus der Union bekommt dann aber CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt für diesen Satz: "Es gilt unsere Werteordnung." Heißt: Flüchtlinge müssen sich integrieren.

Was Merkel jetzt wichtig ist, erwähnt sie am Anfang und am Ende ihrer Rede: die Digitalisierung. Bei aller Sorge vor Überforderung könnte dieser dramatische Wandel die Menschen auch beruhigen - etwa, wenn etwas einfacher werde. Was den Wahlkampf 2017 betrifft, wird vieles aber erst einmal schwieriger: Es sei ein völlig anderes mediales Umfeld entstanden, im Internet kursierten gefälschte Nachrichten, Roboter machten Meinung, Kontrolle fehle, sagt sie.

(dpa)
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