Merkel und die Flüchtlingskrise Die Luft für die Kanzlerin wird dünn

Berlin · In der Union wächst die Nervosität, was Angela Merkels Zukunft angeht. Schon kursieren Szenarien für ein Ende ihrer Kanzlerschaft.

 Wer hält eigentlich noch zu Angela Merkel? Ein Überblick.

Wer hält eigentlich noch zu Angela Merkel? Ein Überblick.

Foto: RP/Ferl

Im CDU-Vorstand haben sich gestern die Reihen der Verteidiger der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin geschlossen. Nach Teilnehmerangaben knöpfte sich Unionsfraktionschef Volker Kauder den Wirtschaftsflügel vor. Er mahnte die etwa 50 Abgeordneten, die einen Protestbrief an Angela Merkel unterzeichnen wollen, dass gerade sie aus ökonomischen Gründen alles tun müssten, um die Grenzen offenzuhalten.

Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer warnte davor, das bereits Geleistete kaputtzureden. Auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stützte Merkel und beschrieb, wie deutsche Soldaten im Mittelmeer gegen Schlepper kämpfen.

Die rheinland-pfälzische Spitzenkandidatin Julia Klöckner riet Merkels Kritikern schlicht, öfter mal die "Klappe zu halten" und zu arbeiten. Die Offensive im Vorstand für Merkels Politik ist ein weiterer Beleg dafür, wie nervös die Führung ist. Mittlerweile steht Merkel von allen Seiten unter riesigem Druck.

Öffentlichkeit In der Union sorgt man sich vor allem um Merkels Image. In den Umfragen ist die Stimmung gekippt. Der Kanzlerin, die im Spätsommer noch Selfies mit Flüchtlingen zuließ, wird eine Einladung an die Flüchtlinge vorgeworfen, nach Deutschland zu kommen. Seit der Silvesternacht wird Merkel dieses Image negativ ausgelegt. Das ist in Teilen ungerecht, da sie sich seit Mitte September auch für eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen einsetzt. Den Ruf der Flüchtlingskanzlerin wird sie aber nicht wieder loswerden.

SPD Die Sozialdemokraten wittern Morgenluft. Mit einer geschickten Mischung aus betont humanitärer Flüchtlingspolitik, die großzügige Regelungen beim Familiennachzug und bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge umfasst, und markigen Sprüchen von Parteichef Sigmar Gabriel blinkt sie mal links und mal rechts. Die Taktik der SPD führt dazu, dass die Stimmung in der Koalition schlechter ist denn je. Das darf man nicht unterschätzen.

CSU Solange der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und sein Finanzminister Markus Söder in Bayern Opposition gegen die Kanzlerin machten, während die Berliner CSU verlässlich mitregierte und das CSU-geführte Bayern die Flüchtlinge vorbildlich versorgte, konnte der Widerstand der Christsozialen als populistische Profilierung abgehakt werden. Seehofer wäre aber mit von der Partie, wenn es darum geht, ernste Schritte gegen die Kanzlerin und ihre Flüchtlingspolitik einzuleiten.

Europa Die Union ist inzwischen desillusioniert, was eine europäische Lösung der Krise betrifft. Selbstverständlich arbeitet die Regierung weiter am Vorhaben einer europäischen Grenzsicherung. "Hotspots" und Kontingente zur Verteilung von Flüchtlingen, auch Rücknahmeregelungen mit Herkunftsstaaten und eine bessere Versorgung in den Flüchtlingslagern in der Türkei und im Libanon bleiben das Ziel. Doch ist der Regierung klar, dass diese Lösungen viel Zeit benötigen, die kaum noch vorhanden ist.

Landtagswahlen Die Wahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt gelten als möglicher Wendepunkt in der Flüchtlingspolitik. Die Bundesregierung wird in den kommenden Wochen alles nach vorne werfen, um die Zahl der Flüchtlinge weiter zu reduzieren. Bislang sorgt vor allem das Wetter dafür, dass weniger Menschen nach Deutschland kommen. Die deutsch-türkischen Regierungskonsultationen in dieser Woche und der EU-Gipfel Mitte Februar sollen weitere Fortschritte bringen. In Regierungskreisen gibt es zudem Überlegungen, die Anreize für Asylbewerber weiter zu senken - in der Hoffnung, dass Deutschland als Fluchtpunkt damit unattraktiver wird. Der Ausgang der Landtagswahlen wird auch für Merkels weitere Position entscheidend sein. Sollte die AfD in alle Landesparlamente triumphierend und mit zweistelligen Ergebnissen einziehen, wird dies die Kritik in der Union an der Politik der offenen Grenzen erheblich befördern. Wenn die Union trotz der Stärke der AfD aber in zweien oder dreien der Länder nach den Landtagswahlen den Ministerpräsidenten stellt, wird sich dies auch stabilisierend für Merkel auswirken. Sollte das nicht der Fall sein, wird die Luft sehr dünn.

Obergrenzen Sollten die Landtagswahlen für die Union negativ ausgehen, wird sofort die Debatte um die Obergrenze zurückkehren. Nach allem, was man an Einschätzungen aus der Bundesregierung hört, liegt die faktische Obergrenze der Belastbarkeit und der Aufnahmefähigkeit für Deutschland etwa bei 1000 Flüchtlingen am Tag. Das wäre doppelt so viel, wie Seehofer genannt hat. Wenn die Flüchtlingszahlen Mitte März weiterhin deutlich darüber liegen sollten, werden nicht mehr nur 40 bis 50 Abgeordnete der Unionsfraktion und die CSU Grenzschließungen fordern. Wenn Merkel dann bei ihrer Linie bleibt, Flüchtlinge passieren zu lassen, könnte es zu gefährlichen Bündnissen kommen.

Allianzen In Berliner Hinterzimmern werden heute schon die Was-wäre-wenn-Fragen zu einem möglichen Abgang der Kanzlerin diskutiert. Eine Vertrauensfrage oder ein konstruktives Misstrauensvotum im Bundestag erscheint aus heutiger Sicht absurd. In einer weiter krisenhaft zugespitzten Situation wird es sehr darauf ankommen, wie sich diejenigen verhalten, die der Kanzlerin abwartend loyal gegenüberstehen, allen voran Finanzminister Wolfgang Schäuble, der für den Fall der Fälle als Krisen- und Übergangskanzler gehandelt wird. Ein solches Szenario wäre aber nur möglich, wenn sich Schäuble mit SPD-Chef Gabriel und CSU-Chef Seehofer gegen die Kanzlerin verbündet. Dann wäre Merkels Abgang nur noch eine Frage der Form. Allerdings ist dieses Szenario äußerst unwahrscheinlich.

(qua)
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