Mein langer Weg nach Europa

Ein sehr persönlicher Appell zur Rettung des europäischen Gedankens - gegen Nationalismus und neue Feindbilder.

Ein Zwölfjähriger, der noch nie etwas von einer Pizza gehört hat, der noch niemals außerhalb Deutschlands in Urlaub war und für den die nahen Niederlande ein unheimliches, fremdes Land sind - unvorstellbar? Nicht für ein Kind der unmittelbaren Nachkriegsgeneration wie mich. Die Idee eines vereinten Europa, der die Mehrheit der Briten gerade so erschreckend leichtfertig eine Absage erteilt hat, ist für mich eine Erfolgsgeschichte, eine große Gemeinschaftsleistung, die gar nicht selbstverständlich war. In stinkenden Kriegsruinen im Mönchengladbacher Ortsteil Eicken spielend und - aus heutiger Sicht - mit meinen Eltern unterhalb der Armutsgrenze lebend, verstehe ich den Ausruf von Jean-Claude Juncker, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, im Juni 2005 auf einer Kriegsgräberstätte in Luxemburg allzu gut: "Wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!"

Zu pathetisch, zu weit hergeholt? Für mich nicht. Noch meine Großmutter war zutiefst erschrocken, als ich 1973 meine Abi-Reise nach Frankreich ankündigte: Das sei doch der Erzfeind Deutschlands. Außerdem würde ich Läuse bekommen. Unsere Väter und Onkel prägten mit ihren Gesprächen - heute würde man sagen: traumatisiert von Kriegserlebnissen - unbewusst unsere Spiele auf der Straße: Die Bösen waren nicht Darth Vader, Roboter, Außerirdische und Zombies, sondern die Franzosen, die Engländer, die "Amis" und vor allem die Russen. Die Italiener waren dagegen als ehemalige Verbündete eigentlich die Guten, aber jämmerliche Feiglinge, deren Panzer angeblich einen Vorwärtsgang, aber vier Rückwärtsgänge hatten.

Als ich Ende der 60er Jahre Austauschschüler in der Kent-School in Waldniel (Kreis Viersen) für die Kinder britischer Soldaten war, die damals auch innen aussah wie aus einem "Harry Potter"-Film, erlebte ich diese primitiven Feindbilder andersherum: Meine Mitschüler lasen unter der Bank heimlich Comic-Heftchen, in denen tapfere Tommys reihenweise brutal-dümmliche deutsche Soldaten niedermähten. Und noch zwei Jahrzehnte später sagte mir die Frau eines älteren französischen Reserveoffiziers bei einem Partnerschaftstreffen in Dünkirchen auf Englisch, sie habe zwar in der Schule Deutsch gelernt und verstehe noch alles gut, was wir sagten. Sie werde aber diese verhasste Sprache wegen der deutschen Kriegsgräuel in ihrer Heimat niemals mehr sprechen.

Ich werde deshalb wütend, wenn heute ein vereintes Europa im öffentlichen Bewusstsein allein als behindernde, sogar entmündigende "Brüsseler Bürokratie" angesehen wird. Mich bedrückt der grassierende Nationalismus, der doch wieder Feindbilder braucht und Grenzziehungen für Lösungen hält. Die vorangegangenen Jahrhunderte hindurch gab es im Schnitt alle 15 Jahre große Kriege in Europa mit vielen Millionen Toten. Meine Großeltern haben zwei Weltkriege miterleben müssen und viele Verwandte, auch Geschwister verloren. Mein Großvater Otto engagierte sich an den Wochenenden in der Kriegsgräberfürsorge und baute unter anderem den deutschen Soldatenfriedhof Lommel in Belgien mit auf, wo 39.000 Kriegstote ruhen, darunter Ausländer in Wehrmachtsdiensten wie Schweden, Italiener oder Franzosen. Er hat leider nicht mehr miterlebt, wie aus Lommel eine internationale Begegnungsstätte geworden ist.

Erst ab den frühen 60er Jahren fuhr unsere Familie an Samstagen im VW-Käfer in die Niederlande und nach Belgien. Das Auto war mit zunehmendem Wohlstand eisern erspart worden. Sogar mein Sparschwein musste dafür geschlachtet werden, ich Knirps war sehr stolz, damit Mitbesitzer zu sein. Aber es waren keine unbeschwerten Touren: Das schlechte Gewissen fuhr gleich zweimal mit, die Erinnerung an Kriegsverbrechen im Hinterkopf und Butter, Zigaretten, Genever und Kaffee versteckt unter der hinteren Sitzbank bei der Rückfahrt. Und man passierte zweimal eine zumindest den Kindern Angst einflößende unheimliche Grenze mit streng dreinblickenden Zöllnern.

Europa, das war später in den 60er Jahren die britische Popmusik mit den Beatles und den Rolling Stones oder Adriano Celentanos italienischer Ferienhit "Azzurro" - und natürlich der Besuch im karg möblierten Eiscafé um die Ecke, irgendwie chic und modern. Erst in der Rückschau merkt man, wie sehr sich unsere Ess- und Trinkgewohnheiten europäisiert haben: Baguette, Spaghetti, Gyros, Zaziki, Tapas, Espresso, Prosecco - damals alles Fremdwörter. Meine erste Pizza habe ich dann als 16-Jähriger gegessen. Für meine Kinder ist das im Zweifelsfall ein normales deutsches Alltagsgericht.

Und all diese Grenzen, darunter jenen unsäglichen "Eisernen Vorhang" auch quer durch Deutschland, haben sie nicht mehr miterleben müssen. Zypern, Kroatien, der Gardasee, das belgische Seebad Knokke oder die holländische Nordseeküste sind längst selbstverständliche, vertraute Ferienziele geworden - ein bezeichnender Scherz ist der von Mallorca als Deutschlands heimlichem 17. Bundesland. Ich sehe zutiefst erschrocken, wie etwas, das selbstverständlich geworden ist, im Wert tief gesunken zu sein scheint. Das Abstimmungsdebakel in Großbritannien war deshalb hoffentlich ein Weckruf: Lasst uns Europas Einheit nicht verspielen!

(mic)
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