Analyse Lateinamerikas Linke entdeckt die Marktwirtschaft

Bogota · Der Staatssozialismus hat in der Region abgewirtschaftet, und selbst das alte Feindbild des bösen Yankee-Kapitalismus bröckelt. Immer mehr Länder bekehren sich, wenn auch zögerlich, zum freien Unternehmertum.

Von Venezuelas Revolutionsführer Hugo Chavez (1954 bis 2013) ist eine Legende überliefert: Als er nach einer schweren Überflutung in Folge heftiger Regenfälle durch Caracas fuhr, ließ er seinen Wagen am Neubau eines Einkaufszentrums im Herzen der Hauptstadt halten. "Habe ich das genehmigt", fragte Chavez und ließ die fast fertige Shopping-Mall beschlagnahmen. Einige hundert Familien, die während der Flutkatastrophe ihr Obdach verloren hatten, wurden dort einquartiert. Die Staatsmedien feierten Chavez für seine Entschlossenheit in der Krise. Die Inhaber der meist kleinen Läden, die ihr gesamtes Vermögen in den Bau gesteckt hatten, aber waren ruiniert, denn die neuen Bewohner blieben über Jahre, zahlten keine Miete, und die Ladenbesitzer standen ohne Lokal da. Noch heute ist das Einkaufszentrum ungenutzt.

Die kleine Episode zeigt wie es Lateinamerikas Linksregierungen mit marktwirtschaftlichen Initiativen hielten. Chavez historisches Verdienst war es, die Armen in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Das hat über ein Jahrzehnt lang funktioniert, solange der Ölpreis hoch war und Venezuela Nahrungsmittel und Produkte des täglichen Bedarfs einfach importieren konnte. Doch das Versäumnis, in eigene Produktion zu investieren und die Verachtung jeglicher marktwirtschaftlicher Initiativen rächt sich nun, da der Ölpreis abgestürzt ist.

Das Pendel ist umgeschlagen. In Argentinien herrscht galoppierende Inflation, in Brasilien eine schwere Wirtschaftskrise, und in Venezuela liegt die gesamte Produktion brach. Das alles führt zu politischen Krisen. Und im Weißen Haus gibt es seit sieben Jahren keinen Präsidenten mehr, den die Linksregierungen für alles Schlechte in Lateinamerika verantwortlich machen können. US-Präsident Barack Obama taugt spätestens seit seiner Annährung an Kuba nicht mehr für die Rolle des Yankee-Bösewichts.

Immer mehr Menschen in Lateinamerika fragen sich, ob ein sozialistischer Ansatz die richtige Lösung ist, um die wirtschaftlichen Probleme der Region zu lösen. Die Folge sind entsprechende Ergebnisse an den Wahlurnen. In Peru siegte unlängst mit Pedro Pablo Kuczynski ein klassischer Vertreter jener Marktwirtschaft, die Sozialisten wie Hugo Chavez für immer ausmerzen wollten. Kuczynski gilt als neoliberaler Wirtschaftspolitiker, eng verzahnt mit der Finanzwelt und lange Jahre in den USA zu Hause. Trotzdem war Perus Linke bei den Wahlen chancenlos.

Boliviens sozialistischer Präsident Evo Morales verfolgt auch deswegen einen anderen Ansatz als seine inzwischen gescheiterten oder abgewählten Amtskollegen in der Region: "Wir brauchen keine Besitzer, sondern Partner", sagt der ehemalige Koka-Bauer bei der Suche nach ausländischen Investoren. Und die kommen gerne nach Bolivien. Einerseits, weil Morales als zuverlässig gilt. Andererseits, weil er ähnlich wie sein Amtskollege in Ecuador, Rafael Correa, marktwirtschaftlichen Initiativen den notwendigen Raum lässt. Morales wiederum profitiert vom Gewinn der Unternehmer, indem er zum Beispiel per Gesetz einfach ein zusätzliches Weihnachtsgeld verordnet. So ist allen gedient: Morales beglückt seine Wähler, die Unternehmer entgehen planwirtschaftlichen Vorschriften wie in Kuba oder Venezuela, und der Einzelhandel freut sich über einen frischen Handelsimpuls durch einen unverhofften Geldsegen für die Konsumenten.

Selbst in Kuba beginnt die Marktwirtschaft erste Blüten zu treiben. Lange Jahre wehrte sich das Castro-Regime aus ideologischen Gründen gegen jede Art von kapitalistischem Einfluss. Seit der Amtsübergabe von Fidel Castro an seinen Bruder Raul aber verändert sich Kuba zusehends. Die regierende Einheitspartei versucht es mit der Zulassung erster privatwirtschaftlicher Initiativen in Handel, Transport und Gastronomie und hat damit Erfolg. Aber der weckt auch weitere Erwartungen. "Die Kubaner wollen jetzt mehr Marktwirtschaft", schrieb jüngst zutreffend die kubakritische Tageszeitung "El nuevo Herald" aus der Exil-Kubaner-Hochburg Miami.

(RP)
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