Analyse Konsensrepublik Deutschland

Düsseldorf · Deutschland wird 2017 einen guten Bundespräsidenten bekommen. Wie man sich auf die Personalie geeinigt hat, zeigt allerdings: Unsere Demokratie ist konfliktscheu geworden. Das tut der politischen Kultur nicht gut.

Frank-Walter Steinmeier wird bestimmt ein guter Bundespräsident. Er ist ein gewiefter Fahrensmann, er kann reden, er ist skandalfrei, sympathisch, weltweit angesehen. Kein Grund also, an der Personalie des höchstwahrscheinlich nächsten Staatsoberhaupts herumzumeckern. Mit Steinmeier werden wir gut fahren.

Die Art und Weise allerdings, wie das politische Berlin zu der Entscheidung gekommen ist, wirft Fragen auf. Fragen über die politische Kultur eines Landes, das so sehr auf Konsens abonniert ist, dass es nicht einmal die dem politischen Getümmel maximal entrückte Entscheidung der Bundesversammlung über das Staatsoberhaupt dem freien Spiel der Kräfte überlässt. Wie schon 2012 wird es in der Bundesversammlung keine in ihrem Ausgang offene Wahl geben - egal, wen Linke und/oder Grüne noch nominieren.

So sind die Zeiten. Sieben der vergangenen elf Jahre wurde die Republik von einer großen Koalition geführt. In fünf Bundesländern regieren CDU und SPD miteinander, auch wenn das längst nicht immer noch eine große Koalition ist. Aber die "Groko" hat sich von der Notlösung zum Normalfall entwickelt. NRW könnte 2017 die Reihe verlängern; die Personalie Steinmeier macht zudem eine schwarz-rote Fortsetzung im Bund zumindest nicht unwahrscheinlicher. Und nun gewöhnt sich die Bundesrepublik auch noch daran, bei der Präsidentenwahl mit 80-Prozent-Mehrheiten zu operieren. Vor 2012 war das bei einem neuen Staatsoberhaupt nur einmal der Fall: 1984, Richard von Weizsäcker.

"Kampfkandidaturen" werden in Deutschland ohnehin kritisch beäugt; nun muss sich also am 12. Februar Steinmeier niemand aus der Union als "Zählkandidat" (noch so ein Wort) entgegenstellen. Berühmte Zählkandidaten bei Präsidentenwahlen waren übrigens Persönlichkeiten wie Carlo Schmid, Annemarie Renger und (bevor sie es später schafften) Johannes Rau oder besagter Weizsäcker - allesamt wegen der Machtverhältnisse ohne Chance. Für unter ihrer Würde oder für ihre Karriere hinderlich hielten sie eine Kandidatur offensichtlich nicht.

Die Methode Steinmeier geht anders: langwierig verhandeln, zwischendurch den Partner-Gegner ermahnen, die Würde des Amtes nicht zu beschädigen, dann in Spitzenrunden doch noch einen Konsens finden, der schließlich von einem Verfassungsorgan seinen Segen erhält. Diese Methode passt nur zu gut zur Befindlichkeit der Deutschen.

Unser ganzes politisches System ist auf Konsens getrimmt: Das Verhältniswahlrecht macht Koalitionen meist unumgänglich; der Bund muss nicht nur Rücksicht auf vielfältige Verbandsinteressen nehmen, sondern auch auf die Länder, die über den Bundesrat an der Gesetzgebung mitwirken. Der Bürger schätzt Einigkeit über alles - wird in Parteien herzhaft diskutiert, gelten sie ihm schnell als zerstritten, also unwählbar. Minderheitsregierungen, und da weiß er sich mit den Müttern und Vätern des Grundgesetzes einig, lehnt er erst recht ab - keine Experimente! Dabei hat erst NRW zwischen 2010 und 2012 erlebt, dass Minderheitsregierungen durchaus Output produzieren können: die Abschaffung der Studiengebühren (mit der Linken) und den Schulfrieden (mit der CDU) brachte Rot-Grün ohne eigene Mehrheit zustande. Für 2017 wird von den Wählern in NRW Rot-Grün einer großen Koalition vorgezogen; unter den nach den Umfragen realistischen Optionen aber liegt Schwarz-Rot weit vor irgendwelchen Dreierbündnissen.

Der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer sah die Konfliktscheu als eine der Konstanten politischer Kultur in der an Brüchen wahrlich nicht armen deutschen Geschichte. "Die Deutschen haben ihre Sucht nach Harmonie fast immer dem Interesse an fairer Konkurrenz und offenem Wettbewerb übergeordnet", schrieb Sontheimer schon 1971 in seiner klassischen Abhandlung über die "Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland". Und nun haben sie es schon wieder getan, wäre hinzuzufügen.

Es stimmt ja: Unsere Konsensdemokratie schützt uns vor allzu krassen Umschwüngen. Ein Wettersturz wie derzeit in den USA wäre in der Bundesrepublik undenkbar. Die Amerikaner haben sich maximalen Wandel damit erkauft, dass nun ein politischer Dilettant und notorischer Sexist die Schalthebel der Macht in der Hand hat. In der Bundesrepublik hat es 2013, nach all den Dramen der Euro-Krise, nicht einmal die AfD in den Bundestag geschafft. Das deutsche System ist träge - und daher wenig anfällig für populistische Erdrutsche, aber zugleich hochanfällig für populistische Schmähungen: Das Lied vom Parteienkartell, das auf die Sorgen der Bürger nicht reagiere und einfach weiter vor sich hinkungele, wird von den Rechten landauf, landab mit Inbrunst gesungen.

Die Findung des Kandidaten Steinmeier - so respektabel das Ergebnis ist - macht dieses Dilemma nicht kleiner. Das politische Wagnis, einen Bewerber gegen Steinmeier aufzustellen, der dann bei den undurchsichtigen Mehrheitsverhältnissen in der Bundesversammlung sogar Chancen gehabt hätte, mochte man bei der Union dennoch nicht eingehen.

Macht ist übrigens nach dem deutschen Soziologen Max Weber die Chance, seinen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Ob der Widerstand im Koalitionsausschuss oder in der Bundesversammlung überwunden wird, sagt Weber nicht. Es braucht aber nicht allzu viel Visionskraft für den Zusatz: Macht erschöpft sich nicht darin, ihre Technik zu exerzieren; Machtausübung, demokratische zumal, vollzieht sich nicht zuletzt in Wahlen und Abstimmungen, die nicht restlos berechenbar gemacht wurden. Allzu viele solche Gelegenheiten bietet unsere repräsentative Demokratie nämlich nicht. Zur Pflege unserer Konsenskultur ist zwischendurch mehr als genug Gelegenheit.

(fvo)
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