Analyse Kinderarmut macht uns arm

Berlin · In keinem anderen Land wurden nach einer neuen Studie in den vergangenen fünf Jahren so wenig Kinder geboren wie in Deutschland. Die schrumpfende Bevölkerung lässt Sozialkosten steigen, das Wachstumspotenzial sinkt.

 Kinderreichtum gilt als ein großes privates Armutsrisiko.

Kinderreichtum gilt als ein großes privates Armutsrisiko.

Foto: dpa

Kinder kosten viel, und Kinderreichtum gilt gemeinhin als ein großes privates Armutsrisiko. Doch betrachtet man das Kollektiv, so verhält es sich genau umgekehrt: Die Kinderarmut ist Deutschlands größtes Armutsrisiko.

In keinem Land der Welt werden so wenige Kinder geboren wie in Deutschland - dies ist das aufrüttelnde Ergebnis einer neuen Standortstudie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO und des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI). Nichts kann offenbar den Bevölkerungsschwund und die Alterung der Gesellschaft aufhalten, die von 2020 an noch einmal deutlich Dynamik gewinnen. Das wird die Bundesrepublik wirtschaftlich zurückwerfen: Die sozialen Lasten, der Umverteilungsdruck, die Lohnnebenkosten, der Investitionsbedarf - all das wird steigen. Das Interesse der Unternehmen an Deutschland dagegen wird sinken - ebenso wie das langfristige Wachstumspotenzial.

Kein Elterngeld, kein Kitaplatz-Ausbau, keine Abschaffung der Kita- oder der Studiengebühren, kein Betreuungsgeld und auch kein hohes Wirtschaftswachstum, kein Beschäftigungswunder und auch nicht die steigenden Realeinkommen der letzten Jahre konnten den Negativtrend aufhalten: Deutschlands Geburtenquote lag in den vergangenen fünf Jahren nicht mehr nur europaweit, sondern weltweit auf dem niedrigsten Stand, fanden die Experten der BDO und des HWWI in ihrer Studie heraus.

Demnach brachten Mütter in Deutschland im Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre 8,3 Kinder je 1000 Einwohner zur Welt - und damit weniger als im bisherigen Schlusslicht Japan, wo 8,4 Kinder je 1000 Einwohner geboren wurden. Unter den EU-Ländern schnitten nur Portugal (8,9) und Italien (9,2) ähnlich schlecht ab. Die anderen großen EU-Länder hatten dagegen deutlich höhere Geburtenraten: Frankreich und Großbritannien kamen auf durchschnittlich 12,7 Geburten je 1000 Einwohner. Die höchsten Geburtenraten wiesen die afrikanischen Länder auf, allen voran der Niger mit 50 Geburten je 1000 Einwohner.

Aus der Entwicklung ergeben sich nach Ansicht des HWWI-Experten Henning Vöpel erhebliche Nachteile und Konsequenzen für die Attraktivität und Leistungsfähigkeit Deutschlands als Wirtschaftsstandort. Die Altersgruppe der Erwerbsfähigen von 20 bis 64 Jahren werde von aktuell 61 Prozent bis 2030 auf 54 Prozent schrumpfen. "In keinem anderen Industrieland verschlechtert sich dieser Trend trotz des Zustroms an jungen Arbeitsimmigranten so stark wie in Deutschland", sagt Vöpel.

Als unmittelbare Folge drohten in Deutschland höhere Lohnnebenkosten, mittelbar der Mangel an Fachkräften. "Ohne starke Arbeitsmärkte als zentralen Standortfaktor kann Deutschland seinen wirtschaftlichen Vorsprung auf Dauer nicht aufrechterhalten", warnt BDO-Vorstand Arno Probst. "Die Zuwanderung junger Fachkräfte erscheint vor diesem Hintergrund als unverzichtbares Stabilisierungsinstrument." Auch die Erwerbsarbeit der Frauen müsse verstärkt gefördert werden, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu sichern.

"Wer jünger und erwerbstätig ist, wird höhere Sozialbeiträge bezahlen müssen. Entweder bekommt er dann einen geringeren Nettolohn oder der Bruttolohn steigt. Das wiederum erhöht die Lohnnebenkosten der Unternehmen. Das kann sich negativ auf den Standort auswirken", sagt auch Clemens Fuest, Präsident des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). "Eine der schwierigsten Herausforderungen für Deutschland wird es in den kommenden 20 Jahren sein, dass immer weniger Arbeitnehmer über das Sozialsystem immer mehr Rentner mit versorgen müssen", warnt Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Nicht nur steigen durch die Alterung die Ausgaben der Kranken- und Rentenversicherung, sie müssen auch von immer weniger Jüngeren finanziert werden. Diese jüngeren Arbeitnehmer werden künftig deutlich mehr in die sozialen Umlagesysteme abgeben müssen - entweder sinkt also ihr Nettolohn oder die Bruttolöhne und die Lohnnebenkosten werden steigen. "Damit lohnt sich Arbeit in Deutschland immer weniger. Unternehmen werden immer stärker im Ausland investieren und gute Jobs aus Deutschland in andere Länder mit besseren Standortbedingungen verlagern. Damit sinkt das langfristige Wachstum der deutschen Volkswirtschaft", warnt DIW-Chef Fratzscher.

Doch die Wirtschaft droht auch aus anderem Grund das Interesse an Deutschland zu verlieren. "Unternehmen investieren in erster Linie dort, wo sie ihre Zukunftsmärkte sehen. Da ist eine alternde und schrumpfende Bevölkerung eher nicht attraktiv", sagt Fuest. Zudem verliert das Land an Gründergeist. "Leute gründen Unternehmen, wenn sie 40 sind, nicht wenn sie 60 sind", sagt der ZEW-Chef. "Die ohnehin schon vergleichsweise geringe Gründerquote in Deutschland wird also weiter abnehmen. Das Land droht an Innovationsfähigkeit zu verlieren, die Gesellschaft an Risikobereitschaft."

Reaktionen der Politik blieben nach dem Abgang von Rot-Grün 2005 aus - im Gegenteil, mit der Rente mit 63 setzte sie sogar falsche Signale. Nach dem Jahr 2029 wird das Rentenalter zwangsläufig über 67 hinaus weiter steigen und der Übergang in die Rente flexibler werden müssen, finden die Ökonomen. Zudem sollte es eine gesetzliche Verpflichtung zur Altersvorsorge geben, denn zu viele Menschen verließen sich immer noch vor allem auf die deutlich schrumpfende gesetzliche Rente. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr: "Wenn die Mehrheit der Wähler nicht mehr aktiv ist, werden Rentenreformen bald nicht mehr durchsetzbar sein. Je länger wir mit Rentenreformen warten, desto schwieriger werden sie", warnt Fuest.

(mar)
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