Izmir Izmir: 300.000 Syrer warten auf ihre Chance

Izmir · Der Zustrom von Kriegsflüchtlingen in die Türkei hält an. Viele hoffen, dass sich die Route nach Griechenland bald wieder öffnet.

Es hat sich herumgesprochen, dass ein Augenarzt kommt, der Flüchtlingskinder mit Sehproblemen begutachtet, ohne dafür Geld zu nehmen. Dutzende syrische Frauen drängen mit ihren Kindern in das kleine baufällige Hauses im Zentrum der türkischen Mittelmeermetropole Izmir. Ein winziges Bürozimmer wird zum Behandlungsraum, der junge Arzt Halil Hüseyin hängt eine Tafel mit großen und kleinen Zeichen an die Wand. Dann kommen die kleinen Patienten einer nach dem anderen an die Reihe, halten sich abwechselnd ein Auge zu und lesen vor, was sie sehen. "Niemand bietet eine Augenuntersuchung an, im Krankenhaus müssten sie monatelang darauf warten, deshalb habe ich mich einfach dazu bereit erklärt", sagt Hüseyin, der mit drei freiwilligen Helfern gekommen ist.

Eine ältere Frau mit schwarzem Kopftuch weint und bittet um Lebensmittel, da sie über nichts verfüge, um ihre Familie zu ernähren. Andere fragen nach Arbeitsmöglichkeiten, benötigen Kleidung oder Schultaschen für die Kinder, damit sie am Unterricht teilnehmen können. "Glücklicherweise konnten wir gerade 250 Ranzen verteilen, aber wir bräuchten nochmal so viele", sagt Yalcin Yanik (56), der das offene Haus betreibt. "Vom Staat bekommen die Leute nichts außer medizinischer Grundversorgung."

Offiziell leben in Izmir rund 100.000 Flüchtlinge, doch vermutlich seien es drei Mal so viele, meint Yalcin Yanik. Viele haben Wohnungen in Basmane bezogen, einem Gewirr von engen Gassen und Basarstraßen, das eigentlich zum Abriss vorgesehen war. Zahlreiche Häuser standen leer. Als nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien die Flüchtlinge kamen, füllte sich das historische Viertel im Herzen der Vier-Millionen-Stadt wieder. Basmane wurde zur Drehscheibe für alle, die einen Weg über die Ägäis nach Europa suchten. Doch seit die Türkei nach dem Flüchtlingsabkommen mit der EU im März die Seegrenze schloss, ist Basmane für viele zur Sackgasse geworden.

Auch der 55-jährige Said Habesch und seine Frau Halide bitten Yalcin um Hilfe, doch an diesem Tag muss er sie enttäuschen. "Es tut mir so leid", sagt der graubärtige Helfer. "Aber wir können heute nichts für euch tun." Und das, obwohl sie jetzt elf Personen ernähren müssen, denn vor einem Monat ist Saids Schwägerin Neriman aus Aleppo mit ihren beiden Kindern gekommen. "In Aleppo gibt es nichts mehr zu essen", sagt die 40-Jährige, deren Mann im letzten Jahr die gefährliche Flucht nach Deutschland glückte; ihr bleibt als einzige Hoffnung die Familienzusammenführung.

In Basmane harren alle elf nun in drei Zimmern aus. Said Habesch weiß, dass es seit dem Flüchtlingsabkommen kaum noch eine Chance gibt, Europa zu erreichen. "Aber hier gibt es für uns keine Zukunft", sagt er. "Wir hoffen darauf, dass sie die Grenze nach Griechenland bald wieder aufmachen." Immerhin können seine Kinder die Schule besuchen. Doch obwohl die Regierung es versprach, erhält nur ein Drittel der 600.000 syrischen Flüchtlingskinder Unterricht. "Fast 400.000 Kinder haben keinen Zugang zu normaler Ausbildung", heißt es in einer Studie des Europarats.

Die Habeschs haben wie meisten Syrer von den versprochenen drei Milliarden Euro der EU im Rahmen des Flüchtlingsdeals gehört, aber keine Vorstellung davon, ob sie davon profitieren können. Sie fragen Yalcin Yanik, aber er weiß es auch nicht. Zehntausende Syrer leben wie Familie Habesch in Izmir von der Hand in den Mund. Und es kommen immer mehr, obwohl die Türkei ihre Grenze nach Syrien geschlossen hat. "Der Zustrom ist nicht stark, aber stetig, wir spüren ihn", sagt Yanik. Zwar wagen jetzt wieder mehr Flüchtlinge die Fahrt übers Meer als noch im August, wo knapp 1600 Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln registriert wurden. Im Oktober kamen schon anderthalb mal so viele, aber die Zahlen sind noch weit von denen des Vorjahres entfernt. "Damals fuhren an einem Tag so viele wie jetzt in einem Monat", sagt Dilan Tasdemir (23), die Sprecherin des Flüchtlingsrats von Izmir. Seit März würden die türkische Küstenwache und Polizei hart durchgreifen. "Sollte das Flüchtlingsabkommen mit der EU aber bröckeln, dann fahren die Leute sofort wieder los!"

Izmirs Basarstraßen spiegeln die Lage auf dem Schleusermarkt wieder. Waren Schwimmwesten im vergangenen Jahr noch der Renner, sind sie heute schwer verkäuflich. Mitten im Basar betreibt der junge syrische Kurde Ber Hudan seinen sechs Quadratmeter großen Saftladen "Izmir Vitamin". Nachdem sein Haus in Aleppo bei einem Bombenangriff vor drei Jahren zerstört wurde, floh der frühere Mathematikstudent mit seiner Frau und wollte eigentlich nach Europa. "Aber dann kam unser Baby, und die Fahrt übers Meer wurde uns zu gefährlich", berichtet er.

Der 26-jährige hat in Izmir zahlreiche Angehörige und Freunde kommen und gehen sehen. "Viele sind jetzt in Deutschland, der Schweiz oder Norwegen", sagt er. Er kennt die aktuellen Preise der Schlepper: 500 Euro für die Überfahrt auf griechische Inseln, halb so viel wie im letzten Jahr. Natürlich hat er auch vom neuesten Angebot erfahren: "Sie geben dir die Garantie, dass du das Land deiner Wahl in Europa erreichst - für 5000 Euro pro Person." 5000 Euro sind ein Vermögen für die meisten Geflüchteten.

Die meisten Schleuser von Izmir haben seit dem Flüchtlingsabkommen ihre Kunden verloren. Issa (Name geändert), ein ehemaliger Lehrer aus Aleppo, der nach Izmir flüchtete, ins Schleppergeschäft einstieg und während der Massenflucht im vergangenen Jahr viel Geld mit seinen Landsleuten verdiente, vertreibt jetzt in einem besseren Viertel von Izmir Computerprogramme. Issa bestätigt auch die neuen All-inclusive-Angebote: "Die Menschen werden übers Meer bis nach Athen gebracht, dann geht es weiter mit dem Flugzeug nach Deutschland." Er selbst habe den Plan aufgegeben, mit seiner Familie nach Europa zu kommen, sagt der ehemalige Schleuser. "25.000 Euro für uns fünf kann ich einfach nicht aufbringen. Aber wenn sich die Lage wieder ändert, bin ich sofort dabei."

(RP)
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