Analyse Italiens große Unbekannte

Rom · Sie mischt linkspopulistische mit konservativen Positionen und könnte bald in Rom regieren: Die Fünf-Sterne-Bewegung ist zum Sammelbecken der Enttäuschten geworden - und muss jetzt deren hohe Erwartungen erfüllen.

Als 2013 in Deutschland mit Peer Steinbrück ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat mitten im Wahlkampf den Stinkefinger reckte, war das der Anfang vom Ende seiner Kampagne. Italien tickt da anders. Dort ist die obszöne Geste schon seit zehn Jahren das Markenzeichen der vom Starkomiker Beppe Grillo ins Leben gerufenen Fünf-Sterne-Bewegung, die am Sonntag bei der Parlamentswahl mit rund einem Drittel der Stimmen zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen ist. Das lautstarke "leck mich!" ("Vaffanculo"), die erbitterte, ja fast hasserfüllte Ablehnung des politischen Establishments, ist bis heute die stärkste Botschaft der Sterne-Truppe geblieben. Und genau das macht im Kern den spektakulären Erfolg der "Grillini" aus: Besser als jeder anderen Partei in Europa ist ihnen das Kunststück gelungen, zum Sammelbecken für alle Enttäuschten zu werden, von ganz links bis ganz rechts.

Ein solcher Triumphzug ist wohl nur in Italien möglich, wo sich unendlicher Frust über das politische System und seine mit sich selbst beschäftigten Repräsentanten mischt mit einer spezifischen Wundergläubigkeit der Wähler. Eine Partei, die den Leuten das Blaue vom Himmel verspricht, gilt nicht als unglaubwürdig, sondern als kreativ. Die Fünf-Sterne stehen damit zwar wahrhaftig nicht alleine - die in diesem Wahlkampf von den italienischen Parteien in Aussicht gestellten Geschenke ans Wahlvolk summierten sich auf einen dreistelligen Milliardenbetrag - aber Beppe Grillos Protesttruppe lockte mit einer schönen neuen Welt, gegossen in ein kunterbuntes 20-Punkte-Programm, die wirklich für alle etwas bereithielt: So durften Arbeitslose auf das versprochene bedingungslose Grundeinkommen hoffen, Internet-Fans auf die Einführung der direkten Online-Demokratie und Umweltschützer auf die angekündigte radikale Energiewende.

Die Fünf-Sterne-Bewegung ist wie eine Mischung aus Piraten und Grünen, aber mit einer Familienpolitik, die wie aus einem CSU-Programm abgeschrieben scheint. Selbst definiert sich die Bewegung als "postideologisch", aber insgesamt lassen sich ihre Positionen vorwiegend als linkspopulistisch einordnen - wenn auch gewürzt mit einer kräftigen Dosis Law-and-Order sowie einer prononcierten Euroskepsis, ohne die sich heute fast keine italienische Partei mehr vor die Wähler traut. Vom einst vehement geforderten Ausstieg aus dem Euro sind die Grillini zwar inzwischen abgerückt, aber "Brüssel" bleibt ein Feindbild.

Die EU wird auch mitverantwortlich gemacht für die lange Zeit katastrophal gemanagte Flüchtlingskrise im Mittelmeer und die Lasten, die Italien dadurch zu tragen hat. Bei den Fünf-Sternen fehlt zwar der rassistische Unterton, mit dem die rechtsextreme Lega gegen Einwanderer hetzt, aber auch die Grillini sind für eine strikte Migrationspolitik.

Für die meisten Wähler dürfte aber das sozialpolitische Programm der Sterne-Bewegung den Ausschlag gegeben haben. Kein Wunder also, dass der verarmte Süden ganz besonders massiv für sie stimmte. Dort räumten die Kandidaten der Grillini in manchen Wahlkreisen 60 Prozent der Stimmen ab. Aber auch im Rest des Landes, wo die Arbeitslosenquote trotz der einsetzenden wirtschaftlichen Erholung weiter deutlich jenseits der zehn Prozent liegt und weiter jeder dritte Jugendliche ohne Job ist, setzten viele ihre Hoffnung offenbar auf die Einführung eines Grundeinkommens (780 Euro im Monat für Einzelpersonen und 1170 für Paare) oder eines Sockelbetrags für die Bezieher kleiner Renten sowie die Senkung von Steuern für Geringverdiener.

Unter den typischen Sterne-Wählern finden sich junge Akademiker mit prekären Zeitverträgen und 900 Euro im Monat ebenso wie Arbeitslose jenseits der 50 und Ehepaare mit Kindern, die trotz zweier Vollzeitjobs gerade mal so über die Runden kommen. Menschen, die sich begreiflicherweise nicht viel Gedanken darüber machen, dass die Verbesserung ihrer persönlichen Lebensumstände den mit 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ohnehin schon extrem hoch verschuldeten italienischen Staat noch weiter in die roten Zahlen treiben würde. Denn finanziert werden soll das Fünf-Sterne-Paradies durch frische Kredite. Zurückgezahlt werden sollen die Schulden erst, sobald die Wirtschaft durch geplante milliardenschwere Investitionsprogramme wieder brummt. Irgendwann.

Kein Wunder, dass man sich nun außerhalb Italiens größte Sorgen macht, wie dieses neue italienische Experiment ausgehen mag. Noch ist nicht klar, welche Formation zuerst den Auftrag zur Regierungsbildung erhält: das Mitte-Rechts-Bündnis mit der Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia oder die Fünf-Sterne, die als einzelne Kraft mit Abstand am besten abgeschnitten haben. Aber vieles spricht dafür, dass man um die Grillini am Ende nicht herumkommen wird. Rechnerisch möglich wäre ein Regierungsbündnis zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung und der rechtsextremen Lega - eine Art großer Koalition der Populisten -, aber sowohl Sterne-Chef Luigi di Maio wie auch der Lega-Vorsitzende Matteo Salvini haben eine solche Zusammenarbeit schon kategorisch abgelehnt.

So ist es am wahrscheinlichsten, dass die Grillini ihre Fühler zum bei der Wahl kräftig abgestraften sozialdemokratischen Partido Democratico (PD) ausstrecken. Dessen Chef Matteo Renzi versucht zwar noch, solche Gespräche zu verhindern. Wie unlängst SPD-Chef Martin Schulz will er seine Partei in der Opposition regenerieren. Aber Renzis Position bröckelt. Viele Parteifreunde sehen durchaus Chancen in einem Bündnis mit den unerfahrenen Grillini. Denen droht, einmal an der Macht, freilich ein Schock, wenn sich herausstellt, dass viele ihrer Projekte nur Wunschträume sind. Ob die Bewegung der Realität des Regierens überhaupt gewachsen ist, das ist die große Unbekannte.

(RP)
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