Hintergrund Islam und Terrorismus - 22 Fragen, 22 Antworten

Militante Gruppen rechtfertigen ihre Brutalität mit einem "Glaubenskrieg". Ist der Islam eine aggressive Religion? Dazu und über weitere Themen der aktuellen Debatte geben wir Auskunft.

Die Anschläge von Paris lenken den Blick wieder stärker auf das mörderische Treiben der Islamisten im Nahen Osten und Europa. Auch wenn Politiker davor warnen, Flüchtlings- und Terrordebatte zu vermengen, sind die Ängste groß, unter den Tausenden Asylbewerbern könnten sich Islamisten verstecken. Wir haben die wichtigsten Fragen zur Lage nach den Attentaten und zu den Hintergründen zusammengefasst. Antworten geben Matthias Beermann, Philipp Jacobs, Martin Kessler, Gregor Mayntz, Thomas Reisener und Frank Vollmer.

Was will der Islamische Staat (IS)?

Ziel ist die Errichtung eines Kalifats, also eines Gottesstaates, in dem allein die Scharia, das islamische Recht, gilt. Mittlerweile strebt die Organisation ganz offen die Weltherrschaft an.

Bedeutet "Dschihad" wirklich "Heiliger Krieg"?

Nein. Der mittelalterliche Begriff "Dschihad" bedeutet übersetzt "Anstrengung" oder auch "Einsatz". In seiner ursprünglichen Form ist der Dschihad gleichzusetzen mit "Kampagne" - gegen Armut, gegen Krankheit oder Analphabetentum. Er zielt also auf ein friedliches Bemühen ab. Der Koran beinhaltet jedoch auch die kriegerische Auseinandersetzung zur Ausbreitung des islamischen Glaubens. Militante Gruppen stützen sich häufig nur auf diese Lesart.

Wie kann man den IS bekämpfen?

Entscheidend schwächen könnte man die Dschihadisten, indem man ihre Finanzströme unterbindet. Doch gerade im Fall des Islamischen Staats ist das kompliziert. Der IS ist nicht wie andere Terrorgruppen vornehmlich auf Spenden aus dem Ausland angewiesen. Er bezieht sein Vermögen hauptsächlich aus eroberten Gebieten, die er auspresst, sowie aus dem Ölgeschäft. Dem gilt es entgegenzusteuern. Gerade erst haben die G 20-Staaten beschlossen, den internationalen Zahlungsverkehr strenger zu überwachen. Die Auflagen werden allerdings an korrupten Nachbarstaaten Syriens scheitern. Ohne die Hilfe dieser Länder ist eine Kehrtwende in dem Konflikt kaum denkbar.

Tragen die USA die Hauptverantwortung für den Aufstieg des IS?

Das kann man nicht sagen, aber die Amerikaner haben mit folgenschweren Fehlern sicher dazu beigetragen. Nach dem Sieg über Saddam Hussein 2003 wurde die irakische Armee aufgelöst. Zahlreiche radikalisierte Offiziere waren arbeitslos und heuerten beim IS an. Später versäumte es Washington, die diskriminierende Politik des schiitischen Premiers Nuri al Maliki gegenüber den Sunniten zu stoppen. Schließlich zogen die US-Truppen 2011 überhastet ab und überließen das instabile Land sich selbst - und dem IS.

Ist Assad nicht das größere Problem in Syrien?

Die Brutalität, mit der das syrische Regime gegen das eigene Volk vorgeht, ist schockierend: Fassbomben auf Zivilisten, Folter gegen Kinder, möglicherweise Einsatz von Giftgas. Auch die angeblich gemäßigten Rebellen machen sich verschiedener Kriegsverbrechen schuldig. Der IS aber übertrifft mit seiner Maßlosigkeit alle anderen Konfliktparteien. Insofern könnte man realpolitisch argumentieren, man müsse Assad stützen, um den IS zu schwächen - so begründet auch Russland seine Einsätze in Syrien. Menschenrechte lassen sich aber nicht gegen Menschenrechte aufrechnen: Der IS muss bekämpft werden, und Assad kann nach der Gewaltorgie der vergangenen Jahre nicht dauerhaft im Amt bleiben. Frieden für Syrien gibt es nur ohne Assad und ohne IS.

Ist der Konflikt von Schiiten und Sunniten der Quell allen Übels?

Er ist jedenfalls eine weit stärkere Triebfeder für die Konflikte in der Region als der immer wieder ins Feld geführte Nahost-Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Der syrische Bürgerkrieg ist extrem konfessionalisiert und ist durch die Unterstützung der beiden großen Rivalen zu einem blutigen Stellvertreterkrieg geworden: Die schiitische Vormacht Iran, die die dominierende Rolle ihrer Glaubensbrüder in Syrien, im Irak sowie im Libanon verteidigen beziehungsweise ausbauen will. Und Saudi-Arabien als Führungsmacht der sunnitischen Staaten, das mit allen Mitteln dagegenhält.

Welche Rolle spielt Saudi-Arabien?

Die Ähnlichkeiten der IS-Ideologie mit der saudischen Staatsdoktrin des Wahhabismus, einer besonders konservativen Spielart des Islam, sind unübersehbar. Es gelten nicht nur dieselben Verhaltensvorschriften, sondern es wird auch dasselbe Strafrecht angewandt. Obwohl auch die Golfstaaten den IS mittlerweile als Terrororganisation verurteilen, drückten viele bisher ein Auge zu, wenn reiche Privatleute, salafistische Stiftungen und Moscheevereine den IS finanziell unterstützten.

Wird Saudi-Arabien vom Westen hofiert, weil den Scheichs viele westliche Unternehmen gehören?

Wirtschaftlich ist Saudi-Arabien wichtig für den Westen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Die saudische Monarchie gilt seit Jahrzehnten als Stabilitätsanker in einer instabilen Region und als verlässlicher Verbündeter. Saudi-Arabien verfügt nach Israel über die modernste Armee der Region. Erst in den 90er Jahren wurde deutlich, dass etliche saudische Staatsbürger den islamistischen Terror entweder förderten oder sogar direkt in ihn verwickelt waren - wie etwa Osama bin Laden. Trotz dieser Ambiguität bleibt die Kooperation mit Riad für den Westen bis heute unverzichtbar.

Gibt es eine US-Strategie, Europa zu schwächen, zum Beispiel durch den Flüchtlingsstrom oder Terror vor der Haustür?

Im Gegenteil: Ein schwaches Europa ist das Letzte, was die Amerikaner sich wünschen. Barack Obama hat seinem kriegsmüden Land einen Rückzug aus der Rolle des Weltpolizisten verordnet. Das kann aber nur funktionieren, wenn andere Staaten gleichzeitig mehr Verantwortung übernehmen. Dabei setzt man in Washington vor allem auf die Europäer, die innerhalb der Nato die wichtigsten militärischen Verbündeten sind. Eine Destabilisierung der EU würde zudem Terrorgruppen mehr Freiräume bieten. Auch wirtschaftlich haben die Amerikaner kein Interesse an einer schwächelnden EU, ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner.

Setzen die Islamisten auf den demografischen Faktor, dass die Muslime die anderen Gruppen wegen ihrer höheren Fruchtbarkeit verdrängen?

Eine bewusste Strategie ist es offenbar nicht. Denn Terroristen und radikale Islamisten wollen kurzfristige Erfolge. Es bleibt aber eine Tatsache, dass die angestammte Bevölkerung in Deutschland schrumpft und die Zahl der gebärfähigen Frauen in nur einer Generation seit Mitte der 60er Jahre um gut ein Drittel abgenommen hat. Muslimische Familien bekommen deutlich mehr Kinder. Ginge dieser Trend bis 2100 weiter, würde der Anteil der Muslime auf 70 Prozent steigen. Allerdings ist das noch eine lange Zeit. Nach Schätzungen des amerikanischen Pew-Instituts steigt der Anteil der Muslime in Deutschland von derzeit fünf auf sieben Prozent bis zum Jahr 2030. Da sind allerdings Flüchtlinge nicht mitgerechnet. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Zahl der Geburten bei den muslimischen Familien so bleibt. Sie sinkt bereits jetzt schon.

Muss Deutschland jetzt Soldaten in Afrika einsetzen, zum Beispiel in Mali, um Frankreich beim Kampf gegen den Terror zu entlasten?

So lange Deutschland in die militärische Auseinandersetzung mit dem IS nicht selbst eingreifen will, bleiben nur zwei militärische Missionen, die Wirkung in der Region entfalten können. Die massive Ausrüstung und Ausbildung der Bodentruppen von kurdischen Peschmerga und irakischen Regierungssoldaten. Und die Beendigung des Bürgerkrieges in Mali, das auf der Kippe steht, neue große Brutstätte des Terrors zu werden. Deutschland ist in der Unterstützung Frankreichs längst in und um Mali tätig. Dieses Engagement dürfte nun deutlich ausgeweitet werden.

Müsste man sich nicht jetzt endlich mit Putin verständigen, auch auf Kosten der Ukraine?

Wenn es nur diese Wahl gäbe, dürfte es keine Verständigung geben. Denn es wäre die schlechtestmögliche Entscheidung, einen Bürgerkrieg in Syrien zu beenden und die Wahrscheinlichkeit für einen Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft zu erhöhen. Wie zynisch wäre es, das Ende des Blutvergießens in Syrien mit einer blutigen Unterdrückung in der Ukraine erkaufen zu wollen! Es hat noch nie zu weniger Leid geführt, wenn Unrecht durch Unrecht ersetzt wurde. Die Signale weisen auf eine andere Option: Verständigungsbereitschaft und Einwirken auf die Konfliktparteien in der Ukraine - und: Einbinden Russlands in die Verantwortung für eine Auflösung des Bürgerkrieges in Syrien.

Warum hört man so wenig von den Chinesen?

China ist zwar ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, hält sich mit eigenen Initiativen aber traditionell sehr zurück. Im Syrien-Konflikt segelte Peking meist im Windschatten der Russen und pochte dabei auf das wichtigste Dogma der chinesischen Außenpolitik, das der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten. Mit Russland blockierte China mehrere UN-Resolutionen zu Syrien. Allerdings drängen die anderen Mächte China aufgrund seiner stark gewachsenen ökonomischen Bedeutung schon länger, auch politisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Präsident Xi Jinping scheint dazu bereit.

Warum geht Europa so nachsichtig mit der Türkei um, obwohl sie die Kurden unterdrückt, die am Kampf gegen den IS teilnehmen?

Weil mindestens drei herausragende Projekte ohne die Türkei nicht funktionieren. Der Bürgerkrieg in Syrien ist nur zu beenden, wenn die großen Nachbarn und Einflussmächte der Region darauf drängen, also auch die Türkei. Auch ein stabiles Syrien gibt es nur, wenn die Nachbarn selbst ein Interesse daran haben. Und die Millionen Flüchtlinge waren so lange für Europa halbwegs beherrschbar, wie die Türkei die meisten beherbergte und die Ausreise unterband.

Nützt der Konflikt Israel?

Auf den ersten Blick scheint das so - Israels Feinde sind zersplittert: Assad kämpft ums politische Überleben, die Hisbollah-Miliz ist damit beschäftigt, ihm dabei zu helfen, auch Islamisten-Milizen sind in Syrien engagiert, ganze Staaten wie Libyen und der Irak sind faktisch zusammengebrochen. Ein großer, konventioneller Krieg in Israel ist derzeit praktisch unvorstellbar. Die existenzielle Bedrohung hat sich allerdings auf eine individuelle Ebene verlagert, wie die palästinensischen Messerattacken in den vergangenen Wochen zeigen. Hinzu kommt: Die israelische Gesellschaft ist so zerrüttet wie selten zuvor; das senkt die Chancen auf eine Wiederbelebung des Friedensprozesses.

Woher kommt der Islamismus?

Der Islamismus ist nicht in erster Linie eine religiöse, sondern eine politische Bewegung. Er entstand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die politische Ohnmacht und die soziale Rückständigkeit der muslimischen, insbesondere der arabischen Welt gegenüber den Europäern. 1928 entstand in Ägypten die antiwestliche, politisch aktive Muslimbruderschaft. Die Niederlage der Araber gegen Israel im Sechstagekrieg verschaffte den Islamisten weiteren Zulauf; in den 90er Jahren verübten islamistische Bewegungen wie Al Kaida erstmals große Attentate. Islamisten propagieren die Rückbesinnung auf den "wahren" Islam der Entstehungszeit. Sie wenden sich gegen westliche Werte wie Demokratie und Gewaltenteilung.

Kann man den Koran auslegen oder ist er wörtlich zu verstehen?

Für Muslime ist die Heilige Schrift unmittelbar göttlichen Ursprungs. Dennoch ist es notwendig, den Koran immer wieder neu zu interpretieren, ihn an die Geschichte anzupassen. So beruft sich etwa die islamische Rechtsfindung weitgehend auf den Koran. Einige Suren, so heißen einzelne Abschnitte, sind mitunter deutlich: "Euch steht die Hälfte dessen, was eure Gattinnen hinterlassen zu, wenn sie keine Kinder haben" (Sure 4,12), andere bedürfen einer Interpretation, weil sie mehrdeutig sind: "und streicht euch über den Kopf", heißt es in Sure 5,6 über die Waschung vor dem Gebet. Die sogenannte Mutaziliten-Schule betonte bereits im 8. und 9. Jahrhundert, dass Gott den Menschen mit Vernunft ausgestattet habe, die ihn auch verpflichtet, diese bei der Auslegung des Korans anzuwenden.

Gibt es einen friedfertigen Islam?

Natürlich. Gegenüber Nicht-Muslimen finden sich im Koran zwar viele negative Aussagen, vereinzelt wird zum Töten der "Heuchler" aufgerufen: "Wenn sie sich abwenden, dann greift sie und tötet sie, wo ihr sie findet" (Sure 4,89). Aber aufgrund solcher Beispiele auf die hohe Gewaltbereitschaft im Islam zu schließen, wäre töricht. So heißt es etwa auch in Sure 2,256: "In der Religion gibt es keinen Zwang." Gewaltbereite Islamisten legen den Koran und damit auch den Islam nach ihren wirren Ideologien aus. Sie beziehen sich oft ausschließlich auf die hetzerischen Zeilen. Die große Mehrheit der weltweit rund 1,5 Milliarden Muslime lebt ihre Religion friedfertig aus.

Erlaubt der Islam Selbstmordattentate?

Wie im Christentum ist Selbstmord auch im Islam eine Sünde. Muslime betrachten menschliches Leben als heilig, es muss geschützt werden.

Wie stehen die deutschen Muslime zu den Islamisten?

Die Islamverbände haben die Attentate scharf verurteilt. "Diese Terroristen führen Krieg gegen die Menschlichkeit und damit auch direkt gegen den Islam", sagte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek. Der Vorsitzende des Islamrats, Bekir Altas, sagte mit Bezug auf die Radikalisierung junger Muslime: "Unsere Verantwortung endet nicht an der Moscheetür." Altas gehört zur Gemeinschaft Milli Görüs, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die Muslime im Land, selbst die streng religiösen, fühlen sich der Bundesrepublik laut einer Bertelsmann-Studie verbunden. 90 Prozent stimmten dem Satz zu, Demokratie sei eine gute Regierungsform; 85 Prozent vertreten die Ansicht, jede Religion habe einen wahren Kern.

Wie denken die Deutschen über den Islam?

57 Prozent der Deutschen empfinden den Islam der Bertelsmann-Studie vom Januar zufolge als Bedrohung - vier Prozentpunkte mehr als 2012. In NRW sind es 46 Prozent. 61 Prozent meinen, der Islam passe nicht zum Westen. Unter den Älteren ist das Bedrohungsgefühl größer als unter den Jüngeren. Und im September sagten in einer Yougov-Umfrage 72 Prozent, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.

Befinden sich Terroristen unter den Flüchtlingen?

NRW-Innenminister Jäger (SPD) sagt: "Bis heute liegt uns kein einziger Hinweis vor, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge gemischt haben könnten." Gleichwohl scheint die Sorge in der Bevölkerung groß: Nach den Anschlägen von Paris mehrten sich entsprechende Hinweise an die Polizei. 120 davon haben die Behörden überprüft - ohne eine Gefahr zu erkennen. Andererseits räumen die Behörden ein, dass sie die Identität von Tausenden von Flüchtlingen in NRW gar nicht kennen. Aber auch das ist nicht unbedingt Anlass zur Sorge: Die meisten kommen nach Deutschland, gerade weil sie vor Terroristen fliehen.

(RP)
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