London In Murdochs Sumpf

London · Mit 45 Millionen Zuschauern und 14 Millionen Zeitungslesern haben die Medien des Milliardärs Rupert Murdoch (80) riesigen Einfluss auf die britische Meinung. Abgesichert durch ein weitverzweigtes Netzwerk von Günstlingen, hat der Australier damit enorm viel Macht im Königreich.

Es war ein sehr ungewöhnliches Geständnis für einen Ex-Chefredakteur der "Sun". Durch eine Therapie vor dem "sicheren Tod" nach 24 Jahren Alkoholismus gerettet, öffnete David Yelland im März 2010 in einem Interview seine Seele. Als Leiter der populärsten Tageszeitung Großbritanniens (1998–2002) sei er wie alle anderen Medienmanager im Imperium von Rupert Murdoch nur eine Marionette gewesen, gestand der 46-Jährige: "Du wachst morgens auf, hörst die Nachrichten im Radio und fragst dich als erstes: ,Was würde er darüber denken?'. Es ist wie ein Mantra in deinem Kopf. Du siehst die Welt permanent durch Ruperts Augen."

Seit etwa zehn Tagen geschieht etwas Seltsames in London: Von einem Fluch erlöst, gesteht erstmals ein Teil der britischen Macht-Elite, die Welt durch Murdochs Augen betrachtet und entsprechend gehandelt zu haben. Aufgerüttelt durch den Abhörskandal bei der inzwischen eingestellten Boulevard-Zeitung "News of the World" (NoW), kämpfen sich Journalisten, Abgeordnete, Lobbyisten, Minister und Polizisten aus der Umklammerung des mächtigen 80-jährigen australischen Strippenziehers frei. Seit Jahrzehnten hat er das Vereinigte Königreich quasi mitregiert. "Es ist eine flammende Rebellion im Geist des ,arabischen Frühlings' gegen einen greisen Herrscher, die unser politisches System freier und sauberer macht", jubelte ein Kommentator.

Der Prozess der kollektiven Läuterung erreichte gestern einen Höhepunkt während einer emotionalen Parlamentsdebatte, in der alle Parteien dem Milliardär den Kampf ansagten: "Egal, wie hoch sie stehen – die Leute, die die Verbrechen sanktioniert oder gedeckt haben, müssen vor Gericht gestellt werden und dürfen keine Rolle mehr in einem Medienunternehmen spielen, das in unserem Land aktiv ist", sagte Premier David Cameron. Faktisch drohte der Regierungschef seinem politischen Gönner Murdoch mit einem Kahlschlag in der Chefetage von dessen Konzern News International (NI). Zu dem Unternehmen gehören der Fernsehsender Sky und die Zeitungen "The Times", "The Sunday Times" und "The Sun".

Scotland Yard hat bereits angedeutet, wegen Unterschlagung von Beweisen, Lügen und Behinderung der Ermittlungen in der Lauschaffäre die NI-Chefetage zur Rechenschaft zu ziehen – düstere Aussichten für NI-Chefin Rebekah Brooks (43). Camerons enge Freundin hatte 2003 David Yelland an der Spitze der "Sun" abgelöst. Die Journalistin mit den flammend roten Haaren war davor drei Jahre lang als Chefin für NoW zuständig. In ihre Amtszeit fiel die Entführung der 13-jährigen Schülerin Milly Dowler, die 2002 ermordet wurde. Die Manipulation ihrer Mailbox hatte den Abhörskandal überhaupt erst ins Rollen gebracht.

Die großen britischen Parteien – Labour und Tories – haben seit den Regierungszeiten von Margret Thatcher den Medienunternehmer Murdoch hofiert. Durch seine 39-prozentige Beteiligung am Bezahlsender Sky erreicht er täglich etwa 45 Millionen Briten, seine Zeitungen haben 14 Millionen Leser. Besonders die "Sun" mit ihrer täglichen Leserschaft von sieben Millionen soll durch klare Parteinahme den Ausgang der britischen Parlamentswahlen beeinflusst haben. Im Bewusstsein dieser Macht hatte sich die Labour-Führung nach dem Wahltriumph des Tories John Major 1992 um einen Frieden mit Tory-Freund Murdoch bemüht. Fünf Jahre später wurde dieses Bemühen mit der Machtübernahme durch Blair gekrönt. Der sozialdemokratische Hoffnungsträger musste vor der Wahl um die halbe Welt fliegen, um Murdoch in Australien zu treffen. Blair versprach dem Milliardär laut "Guardian" freie Hand bei dessen Expansion in England.

Labour musste jedoch später einen hohen Preis für diesen Pakt zahlen. Als Gegenleistung für die Unterstützung musste Blair angeblich 1998 bei Gesprächen mit dem italienischen Premier Romano Prodi eine mögliche Übernahme der Mediengruppe Mediaset durch seinen Freund Rupert sondieren. Laut einem Insider in der Downing Street stieg der machthungrige Medienunternehmer danach faktisch zum "24. Minister" in der Labour-Regierung auf. Blair soll keine schwerwiegende Entscheidung ohne Rücksprache mit Murdoch getroffen haben. "Man hörte selten seine Stimme, aber wir fühlten immer seine Präsenz", schrieb später Blairs Politikberater Lance Price.

2007 setzte der neue Labour-Chef Brown den Schmusekurs fort: Sein erstes Interview als Premier bekam die "Sun". Drei Monate später empfing Brown den Medienmagnaten als Gast auf seinem Landsitz Chequers. Im März 2008 besuchte Rebekah Brooks ein Mittagessen für die "erfolgreichsten Frauen der Welt" an Browns Amtssitz. Im Juni 2008 amüsierten sich der Regierungschef und First Lady Sarah gemeinsam mit der "Sun"-Chefin auf Murdochs Sommerparty in London.

Die Liste lässt sich auch mit Browns Nachfolger David Cameron fortsetzen. Er gehört zum sogenannten Chipping-Norton-Kreis – wohlhabende und einflussreiche Figuren aus Politik und Medien. Chipping Norton ist ein Städtchen in der Grafschaft Oxfordshire. Murdochs Tochter Elizabeth besitzt dort ein Gutshaus. Ebenso Rebekah Brooks, die nur zwei Kilometer von Camerons Landhaus entfernt wohnt.

Glaubt man dem ehemaligen NoW-Reporter Paul McMullan, ritt der Tory-Premier regelmäßig mit Brooks in den malerischen Hügeln der Region Cotswolds aus. Im Dezember 2010 bewirtete die NI-Chefin David und Samantha Cameron in ihrem Haus bei einem Festessen zu Ehren von Rupert Murdoch. Wenige Tage davor hatte Cameron seinen liberalen Wirtschaftsminister Vince Cable öffentlich gedemütigt, der die Komplettübernahme des Satellitenkanals BSkyB durch den Australier verhindern wollte. Cameron pfiff Cable zurück und übertrug den kontroversen Fall seinem Medienminister Jeremy Hunt, der bis vor zwei Wochen energisch das acht Milliarden Pfund teure Geschäft vorantrieb – bis der NoW-Skandal alle politischen Karten in London neu mischte.

Heute lässt sich Regierungschef Cameron nicht gerne auf seine Kontakte mit Murdoch ansprechen. Er ist nicht alleine: Auch die Führung der größten britischen Polizeibehörde steht im Verdacht, News International mit Samthandschuhen behandelt zu haben. Nach "Guardian"-Informationen wurde die Scotland-Yard-Spitze zwischen 2005 und 2010 etwa drei Dutzend Mal von Murdochs Zeitungen bewirtet. Der in die Kritik geratene Vize-Polizeichef John Yates, der 2009 die Ermittlungen gegen die NoW-Hacker wegen mangelnder Beweise eingestellt hatte, dinierte fünfmal auf Murdochs Kosten. Einflussreiche Politiker wie Londons Bürgermeister Boris Johnson fordern jetzt seinen Rücktritt.

Im Skandal um die illegalen Recherchepraktiken bei News International ist derzeit kein Ende absehbar. Nach Angaben der Polizei wurden bislang erst 170 von fast 4000 potenziellen Opfern der Hacker-Affäre kontaktiert.

(RP)
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