NACHRUF Ilse Aichinger . . . stirbt im Alter von 95 Jahren

Ilse Aichinger ist keine Schriftstellerin gewesen, sondern eine Dichterin. Ein sehr große zumal, und das heißt auch: dass sie unvergleichlich und selbstredend ohne Nachfolgerin ist. Die Trauer über die Nachricht von ihrem Tod findet ein wenig Trost darin, dass der Österreicherin ein langes Leben geschenkt wurde: Sie starb gestern 95-jährig in Wien. Doch ob ihr das Leben wirklich ein Geschenk gewesen ist, bleibt zweifelhaft. Mit ihrer jüdischen Mutter hauste sie während des Zweiten Weltkriegs in Wien, in ständiger Angst, von den Nazis deportiert zu werden - so wie es ihrer Großmutter erging. Diese traumatische Erfahrung wandelt sich zu einem der wichtigsten Bücher der Nachkriegszeit: In "Die größere Hoffnung" von 1948 folgt Ellen, ein rassisch verfolgtes Mädchen, inmitten einer umkämpften Stadt dem Morgenstern. Er wird dem Kind zur größeren Hoffnung, bevor es von einer Granate zerrissen wird. Aichingers Schreiben ist eng verknüpft mit der Gruppe 47, der sie fast 20 Jahre angehört. Es ist ein Erzählen und Dichten der Grenzerfahrung. Sie brauchte dafür keinen großen Raum. Immer knapper wurden ihre literarischen Mitteilungen an die Leser. Als würden zunehmend die Worte dafür ausgehen und fehlen, was der Krieg ihr angetan und das Leben ihr beschert hatte. Dazu gehört auch ihre Ehe mit dem großen Hörbuchautor Günter Eich ("Träume"), der, wie spät bekannt wurde, auch zur Nazizeit zeitkonforme Werke lieferte. "Ich habe es immer als eine Zumutung empfunden, dass man nicht gefragt wird, ob man auf die Welt kommen will. Ich hätte es bestimmt abgelehnt", sagte sie einmal. Als eine Form des Verschwindens entdeckte Aichinger für sich mehr und mehr das Kino. Kaum ein Tag ohne ein Besuch in einem der Wiener Lichtspielhäuser. Nicht zur kurzweiligen Ablenkung: "Was wäre das Kino ohne den Tod", fragte sie noch als alte Frau.

Lothar Schröder

(RP)
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