Analyse Geld oder Flüchtlinge!

Düsseldorf · Um den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer zu stoppen, will die EU ihre südliche Außengrenze nach Afrika verlagern und dort Staaten für die Einrichtung von Auffanglagern bezahlen. Das kann nur eine Notlösung sein.

Analyse: Geld oder Flüchtlinge!
Foto: Olmo Calvo

Von Einigkeit über ein faires Verteilungssystem von Flüchtlingen kann in der EU weiter keine Rede sein. Wohl auch deswegen wird jetzt so eifrig ein Plan diskutiert, die Asylanträge von Flüchtlingen, die nach Europa wollen, schon in speziellen Auffanglagern in Afrika zu prüfen. Jene Bewerber, die die Kriterien erfüllen, dürften dann ganz legal und sicher in die EU einreisen. Aber genau da hakt es: Nach Schätzungen der Uno sind 70 Prozent der rund 380.000 Flüchtlinge, die in einigen Staaten Nord-, West- und Ostafrikas gestrandet sind und dort unter teils katastrophalen Bedingungen leben, Wirtschaftsmigranten, die keinerlei Anspruch auf Asyl in Europa hätten. Und das ist wohl noch eine eher konservative Annahme. Es sind vermutlich mehr als 90 Prozent, die chancenlos sind. Und genau deswegen ist die Idee mit den europäischen Asyllagern in Afrika schon einmal geplatzt.

Das war 2004. Der deutsche Innenminister Otto Schily und der britische Premier Tony Blair machten sich schon damals für die Einrichtung solcher Zentren auf afrikanischem Boden stark. Aber keiner der Maghreb-Staaten, an die man als Standort gedacht hatte, mochte mitspielen. War doch klar, was passieren würde: Nur einem Bruchteil der Migranten würde die Weiterreise in die EU gestattet. Die anderen würden auf unabsehbare Dauer in schnell wuchernden Flüchtlingscamps hängenbleiben. Die EU hätten ihr Flüchtlingsproblem zwar erfolgreich ausgelagert, die nordafrikanischen Staaten säßen aber auf einer sozialen Zeitbombe.

Seien wir doch ehrlich: Die EU verspricht auch jetzt wieder die freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen, aber am Ende soll fast niemand kommen dürfen. Das lässt sich ja selbst in Europa besichtigen. Der Verteilmechanismus, den die EU 2015 beschlossen hat und demzufolge 160.000 Flüchtlinge aus den besonders von der Flüchtlingskrise betroffenen Mitgliedstaaten Griechenland und Italien in andere EU-Länder umgesiedelt werden sollten, ist eine Farce geblieben. Bis jetzt konnten nur etwa 27.000 Flüchtlinge tatsächlich in andere Länder ausreisen. Und zwölf von 28 EU-Staaten haben sich dem System komplett verweigert. Warum also sollten die europäischen Staaten bereit sein, Flüchtlinge aus der Sahelzone nach Europa einzufliegen, wenn sie sich noch nicht einmal dazu durchringen können, Menschen aus Thessaloniki oder Palermo einreisen zu lassen?

An diesem Widerspruch hat sich seit 2004 nichts geändert. Was neu ist, ist die politische Dringlichkeit, mit der das Flüchtlingsthema in Europas Hauptstädten inzwischen behandelt wird. Und damit auch die Bereitschaft, das Problem per Scheckheft zu regeln. Die Europäer verhandeln jetzt mit einigen der ärmsten Länder der Welt: Der Tschad und Niger liegen auf der Transitroute vieler Flüchtlinge; ihnen winken hohe Millionen-, ja Milliardensummen, wenn sie dabei helfen, den Flüchtlingstreck Richtung Norden zu stoppen. Da werden sich die Mächtigen dort nicht lange zieren.

Das Ganze wird also richtig teuer, aber schließlich hat die EU ja auch der Türkei schon drei Milliarden Euro zugesagt, um die Balkanroute zu stopfen. Vermutlich wird es mindestens ebenso viel kosten, das zentrale Mittelmeer abzuriegeln. Wenn das gelingt, liegen die Vorteile aus europäischer Sicht auf der Hand: Italien, wo in diesem Jahr schon wieder 120.000 Flüchtlinge an Land gekommen sind, die niemand in der EU den Italienern abnehmen will, wäre erst einmal entlastet. Dies wiederum könnte dem hässlichen Streit um die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU die Schärfe nehmen, und irgendwann könnten auch die Grenzkontrollen im Schengenraum wieder aufgehoben werden. Kurz: Die Festung Europa hätte ihre Außengrenzen erfolgreich um einige Tausend Kilometer nach Süden verlegt. Das, so kalkuliert man in Berlin, Paris und anderswo, schreckt die Migranten ab und erspart uns die Bilder von im Mittelmeer treibenden Leichen.

Ob diese Rechnung aufgeht, ist freilich ungewiss. Schon bisher sind die Bemühungen, potenziellen Migranten die Aussichtslosigkeit ihrer Flucht ins vermeintlich goldene Europa zu vermitteln, weitgehend wirkungslos verpufft. Den besten Beleg dafür hat der französische Präsident Emmanuel Macron, der derzeit am nachdrücklichsten auf eine "afrikanische Lösung" des Flüchtlingsproblems drängt, im eigenen Land: Seit Jahren stranden an der Kanalküste bei Calais Migranten aus aller Herren Länder, die unbedingt nach England wollen. Ihre Bleibeaussichten sind gleich null. Trotzdem reißt der Zustrom nicht ab. Außerdem, das zeigt das Beispiel Türkei, macht sich die EU politisch erpressbar, wenn sie ihr Einwanderungsproblem an andere Staaten delegiert.

Deswegen wird die Abriegelungsstrategie allein nicht funktionieren, sie kann bestenfalls eine Übergangslösung sein, der wir lieber nicht das Etikett "humanitär" verpassen sollten, das wäre Heuchelei. Aber man kann sie rechtfertigen, wenn dadurch Zeit gewonnen wird für die Umsetzung einer wirklichen Strategie gegen das Flüchtlingsdrama. Auch sie wird seit vielen Jahren diskutiert: Afrikas Wirtschaft muss gestärkt werden, damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben können - und wollen. Nicht mit Almosen, sondern mit Investitionen, vor allem aus privater Hand, die die EU über Bürgschaften absichern könnte. Warum sollen deutsche Mittelständler dort nicht in Öko-Energieprojekte investieren und Jobs schaffen?

Beim EU-Afrika-Gipfel im November soll eine Art Marshall-Plan für Afrika aufgelegt werden, aber noch wichtiger wäre es, afrikanischen Ländern endlich stärkeren Zugang zum EU-Binnenmarkt zu geben, damit sie dort Geld verdienen können, etwa mit Agrarprodukten. Gewiss, das wird Europas Bauern nicht gefallen. Aber unser Kontinent kann nicht auf Dauer in Frieden leben, wenn es Afrika auf Dauer schlecht geht.

(RP)
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