Reise nach Istanbul Front gegen Merkel - auch international

Berlin · Die Kanzlerin steht nicht nur innenpolitisch unter Druck: Auch der EU-Gipfel brachte keinen Durchbruch in der Flüchtlingsfrage. Am Sonntag ist sie nach Istanbul gereist und trifft Erdogan und Davutoglu.

Kanzlerin Angela Merkel wird am Sonntag vom türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu begrüßt.

Kanzlerin Angela Merkel wird am Sonntag vom türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu begrüßt.

Foto: ap

Lange Verhandlungsnächte sind Bundeskanzlerin Angela Merkel am nächsten Morgen nicht immer anzusehen. Nach dem EU-Gipfel zeigte sie allerdings deutliche Spuren der Erschöpfung: die Augen rot, die Sprache fahrig. Der schlechte Auftritt wird nicht nur den langen Verhandlungen geschuldet gewesen sein. Muss die Kanzlerin doch seit Tagen Kritik von allen Seiten einstecken: Die CSU, ihre Fraktion, die Parteibasis, die Kommunen, die Länder und auch ihre europäischen Freunde zeigen sich vom Kurs der deutschen Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik irritiert.

In Brüssel wurde ein Aktionsplan verabredet, der den Zustrom der Flüchtlinge nach Europa eindämmen soll. Doch ein echter Durchbruch ist nicht gelungen. Derzeit kommen täglich 5000 bis 10.000 Flüchtlinge nach Deutschland. In den 40 Tagen zwischen dem 5. September und dem 15. Oktober registrierten die Bundesländer nach Angaben des "Spiegel" 409.000 neue Migranten. Bis Jahresende könnte sich ihre Zahl auf deutlich über eine Million summieren. Wann der Zustrom gemindert werden kann, bleibt offen. Es gibt noch nicht einmal Termine für den Aktionsplan.

Dabei wäre internationaler Erfolg für die Kanzlerin wichtig, die innenpolitisch unter Druck steht. Sie lehnt es bislang ab, öffentlich zu kommunizieren, dass die Aufnahmekapazitäten in Deutschland begrenzt sind, und setzt auf die Karte der internationalen Lösung.

Im Mittelpunkt einer solchen Lösung steht die Türkei, die ihre Grenzen besser überwachen und mehr durchgereiste Flüchtlinge zurücknehmen soll. Die Türkei erwartet im Gegenzug drei Milliarden Euro, um die Flüchtlinge zu versorgen. Europa war bislang bereit, eine Milliarde zusätzlich zu geben; auch diese Finanzierung steht noch nicht fest. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beklagte, die Mitgliedstaaten kämen ihren Verpflichtungen nicht nach. Ums Geld wird es erneut gehen, wenn sich Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag treffen.

Außer Geld verlangt die Türkei auch mehr Anerkennung von den Europäern, wenn sie einen Teil des Flüchtlingsproblems lösen soll. So wurden in der Nacht auch Visa-Erleichterungen für Reisende aus der Türkei vereinbart und die Absicht erklärt, dass die Beitrittsgespräche mit der EU "mit neuer Energie" geführt werden sollen. Erdogan nutzt die Lage für sich. Er fragte gestern: "Wenn es ohne die Türkei nicht geht, warum nehmt ihr die Türkei dann nicht in die EU auf?" Bereits gestern sprach sich die Kanzlerin für eine Pufferzone zwischen der Türkei und dem Einflussgebiet des "Islamischen Staats" in Syrien aus. Für Merkel ist das Zugehen auf die Türken eine Kröte, die sie schlucken muss, lehnt sie doch wie ihre Union einen EU-Beitritt der Türkei ab. Von Linken und Grünen hagelte es wegen des Entgegenkommens an den autoritär regierenden Erdogan Kritik.

Einigen konnten sich die Staats- und Regierungschefs auch darauf, die Außengrenzen der EU besser zu sichern. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll das Recht erhalten, in bestimmten Fällen Flüchtlinge zurückzuführen. Doch es hat nach Teilnehmerangaben auch heftig geknallt. Die EU-Kommission will, unterstützt von Deutschland, eine Verteilquote für Flüchtlinge durchsetzen. Vorbild soll nach Wunsch der Kanzlerin der bisher vereinbarte Schlüssel für 160.000 Flüchtlinge sein. Insbesondere die osteuropäischen Länder, die kaum bereit sind, überhaupt Flüchtlinge aufzunehmen, wehren sich dagegen.

Für die Deutschen ist der Streit pikant: Deutschland hat in der EU die Dublin-Regel durchgedrückt, wonach Flüchtlinge in dem Land registriert werden müssen, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten. Unter dem Druck des Flüchtlingsstroms lässt sich Dublin nicht mehr einhalten. Zudem wird Merkel in Europa der Vorwurf gemacht, mit ihrer Sondergenehmigung für die Anfang September in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge und dem weiteren Einlass aller Neuankömmlinge auch danach eben diese Regelung permanent zu verletzen. In dieser Frage ist sie also in einer sehr schwierigen Verhandlungsposition.

Merkel, die in Deutschland vor allem in den eigenen Reihen unter Druck steht, sich auch national für eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen einzusetzen, klingt auf dem europäischen Parkett anders als in der Heimat: "Wir brauchen Steuerung, wir brauchen Ordnung, wir brauchen Planbarkeit, und das bedeutet auch Lastenteilung", sagte sie nach der Sitzung in Brüssel in Bezug auf die Weigerung insbesondere der Osteuropäer, sich in der Flüchtlingsfrage solidarisch und humanitär zu zeigen. Merkels Taktik besteht darin, die Probleme außerhalb Europas zu lösen, wenn sie sich nicht in der EU beheben lassen. So ergänzte sie, dass es vorrangig sei, "dass man den Schleppern nicht mehr die Hoheit über irgendwelche Hoheitsgewässer überlässt".

Auf nationaler Ebene sieht sie anders als die CSU und eine wachsende Gruppe in ihrer eigenen Partei keine Chance, den Zustrom zu begrenzen. Wie der Rest der Union allerdings ist Merkel für Transitzonen, aus denen Asylbewerber ohne Aussicht auf Bleiberecht schneller abgeschoben werden können. Sie werde "nicht ruhen und rasten, bis wir auch die Sozialdemokraten davon überzeugt haben", sagte Merkel gestern Abend bei der Jungen Union.

(qua)
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