Istanbul Fragezeichen nach der Freilassung

Istanbul · Die Freude über die Entlassung des Menschenrechtlers Peter Steudtner ist groß. Aber was wird aus den anderen deutschen und türkischen Häftlingen?

Als Peter Steudtner die Monate in türkischer Haft gedanklich Revue passieren lässt, kommen ihm die Tränen. In der Nacht zu gestern steht der Berliner Menschenrechtler zusammen mit seinen Leidensgenossen vor dem Gefängnis in Silivri westlich von Istanbul, ein türkisches Gericht hat sie gerade nach einer ganztägigen Verhandlung auf freien Fuß gesetzt. "Total glücklich" und dankbar seien sie, sagt Steudtner im Scheinwerferlicht der Fernsehkameras. Dann versagt ihm die Stimme, Mithäftling Ali Gharavi streicht Steudtner aufmunternd über den Kopf, bevor er fortfahren kann. Danken wolle er allen, die sich auf "juristischer und diplomatischer Ebene" für die Inhaftierten eingesetzt hätten.

Es ist unwahrscheinlich, dass Steudtner da schon weiß, dass sein Dank an die "diplomatische Ebene" haargenau auf Altkanzler Gerhard Schröder passt, der mit einer Geheimmission beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Freilassung der Häftlinge erreicht haben soll. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel dankt Schröder für seinen Einsatz, bei dem Ende September auch über andere deutsche Häftlinge in der Türkei gesprochen worden ist.

Steudtner und seine Kollegen waren am Mittwoch im Gerichtssaal Zeugen einer auffälligen Wandlung in der Haltung der türkischen Justiz geworden: Im krassen Widerspruch zu den über Monate erhobenen Vorwürfen an die Menschenrechtler, sie hätten sich Anfang Juli auf der Insel Büyükada zur Vorbereitung eines Umsturzversuchs getroffen, beantragte die Staatsanwaltschaft die Freilassung der Beschuldigten. Das Gericht stimmte zu.

Der Prozess gegen die Aktivisten wird zwar am 22. November weitergehen, aber zumindest für Steudtner und den Schweden Gharavi ist die Sache ausgestanden. Niemand erwartet, dass sie im November in die Türkei zurückkehren werden, um erneut vor Gericht zu erscheinen. Selbst bei einer Verurteilung sind sie sicher, solange sie nicht mehr in die Türkei reisen.

Die türkische Regierung kontrolliert die Besetzung der Gerichte und hat seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres mehr als 4000 unbotmäßige Richter abgesetzt. Wahrscheinlich hätten Richter und Staatsanwalt in Istanbul einen Hinweis aus Ankara erhalten, kommentierte der amerikanische Türkei-Experte Howard Eissenstat auf Twitter.

Möglicherweise zeigte sich bei Steudtner auch die Folge deutscher Wirtschaftssanktionen, die seit Monaten angedroht werden. In den vergangenen Tagen hatte die Bundesregierung bei europäischen Kreditinstitutionen auf schärfere Bedingung für Türkei-Geschäfte gedrungen. Als wichtigster Handelspartner der Türkei kann die Bundesrepublik ihren Unmut über die Behandlung ihrer Staatsbürger durch die türkische Justiz mit spürbaren Konsequenzen verbinden. Nach Steudtners Freilassung kommt die Forderung auf, der deutsche Druck auf die Türkei müsse weiter forciert werden, um auch die Freilassung anderer Häftlinge zu erreichen.

Fest steht, dass Erdogan seine eigenen Anhänger mit der Kursänderung im Fall der angeklagten Menschenrechtler überraschte. Die regierungsnahe Presse hatte Steudtner und die anderen über Monate als gewiefte Geheimagenten beschrieben, die auf Büyükada einen Aufstand gegen Erdogan und die Zerstörung der staatlichen Einheit der Türkei geplant hätten. Dass dieselben Personen nun plötzlich auf freien Fuß gesetzt wurden, zerstörte dieses Feindbild. Die Erdogan-treue Zeitung "Yeni Akit" nannte die Freilassungen deshalb einen "Skandal".

Klar wurde am Tag nach Steudtners Haftentlassung aber auch, dass der glimpfliche Ausgang seines Prozesses keine Schlussfolgerung für das Schicksal anderer deutscher oder türkischer Häftlinge in der Türkei zulässt. Steudtner kam rund 100 Tage nach seiner Verhaftung vor Gericht - der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel sitzt dagegen seit Februar ohne Anklageschrift hinter Gittern. Niemand weiß, wann Yücel vor den Richter kommt. Bei der ebenfalls angeklagten deutschen Übersetzerin Mesale Tolu hatte das zuständige Gericht vor zwei Wochen eine Freilassung abgelehnt. Ihr Prozess soll am 18. Dezember fortgesetzt werden. Im westtürkischen Izmir begann gestern der Prozess gegen den Vorsitzenden von Amnesty International in der Türkei, Taner Kiliç, der auch im Istanbuler Prozess mitangeklagt war. Anders als die Staatsanwaltschaft in Istanbul beantragte die Anklage in Izmir die Fortsetzung der Untersuchungshaft für Kiliç: Man müsse noch Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln.

Ohnehin ist keine Änderung der harten Haltung der türkischen Regierung bei der Verfolgung ihrer Kritiker erkennbar. Während Steudtner am Mittwochabend die frohe Nachricht von seiner Freilassung feiern konnte, nahm die Istanbuler Polizei die Journalistin Zeynep Kuray wegen angeblich staatsfeindlicher Facebook-Mitteilungen fest. Das Polizeiverhör für den Unternehmer und Kulturförderer Osman Kavala, einen vorige Woche festgenommenen wichtigen Vertreter der türkischen Zivilgesellschaft, wurde gestern um weitere sieben Tage verlängert. Kavala hat nach wie vor keinen Zugang zu einem Anwalt.

Auch seine Kritik am Westen setzt Erdogan unvermindert fort, obwohl für ihn derzeit die USA im Vordergrund stehen, nicht Europa. Von Washington fordert Erdogan die Auslieferung des angeblichen Putschistenführers Fethullah Gülen und das Ende des Verfahrens gegen den in New York angeklagten türkisch-iranischen Goldhändler Reza Zarrab, der viel über die mutmaßliche Korruption in Erdogans Umfeld weiß und vor Gericht einiges erzählen könnte. Die Türkei hat unter anderem einen amerikanischen Pastor und Mitarbeiter amerikanischer Konsulate in Haft genommen.

(RP)
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