Analyse Am liebsten nach Deutschland

Berlin · Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich so viele Flüchtlinge aus Krisengebieten auf den Weg in reichere Industriestaaten gemacht wie 2015. Der Trend wird aus Sicht der Industrieländer-Organisation OECD anhalten.

65 Millionen Menschen sind nach einer Schätzung der Vereinten Nationen auf der Flucht. Da macht sich die Rekordzahl der 4,8 Millionen Migranten, die im vergangenen Jahr aus Krisenregionen in die 35 reicheren Mitgliedsstaaten der Industrieländer-Organisation OECD ausgewandert sind, fast gering aus. Die Relation der beiden Zahlen lässt erahnen, dass die weltweite Flüchtlingsmigration ihr Ende noch nicht gefunden hat und mindestens im laufenden Jahr im OECD-Raum mit einem weiteren Einwanderer-Rekord zu rechnen ist. Im Zentrum des Migrationsinteresses steht weiterhin Deutschland, wie aus dem OECD-Migrationsbericht hervorgeht, der gestern veröffentlicht wurde. Gegründet wurde die OECD 1961 als Nachfolger der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die meisten OECD-Mitglieder gelten als entwickelte Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen.

Krieg, Terror, Verfolgung von Minderheiten, Armut, Religionskonflikte - nie haben sich die Fluchtursachen in den vergangenen 70 Jahren derart summiert. "2015 verbuchten die OECD-Staaten so viele Asylbewerber wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr", heißt es im Migrationsbericht. Rund 1,65 Millionen Menschen beantragten 2015 Asyl in den OECD-Ländern. Die Mehrheit kam nach Europa, 25 Prozent waren Syrer. Besonders Deutschland, die größte Volkswirtschaft Europas mit dem am besten funktionierenden Arbeitsmarkt, stehe dabei im Zentrum der Migrationsströme.

Eine gestern gestartete Konferenz der Vereinten Nationen und ein weiteres Gipfeltreffen heute auf Einladung des scheidenden US-Präsidenten Barack Obama haben die Flüchtlingsmigration zum Thema. Ziel der Bemühungen: Fluchtursachen einzudämmen, Migrationsanreize durch mehr Finanzhilfen zu verringern und durch organisierte Umsiedlungen dafür zu sorgen, dass die Migration die Zielländer nicht überfordert. Vor einem Jahr, bei der letzten UN-Flüchtlingskonferenz, wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel noch für ihre humanitäre Geste bejubelt, weil sie unmittelbar zuvor Zehntausende in Ungarn festsitzende syrische Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen hatte. In diesem Jahr fehlt Merkel in New York, weil sie zu Hause aufpassen muss, dass ihr die Regierung nicht um die Ohren fliegt. Dafür wird Deutschland in den USA von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) vertreten.

Doch viel ist aus deutscher Sicht von den Konferenzen nicht zu erwarten. Das vorbereitete Abschlussdokument für die UN-Konferenz ist nicht bindend. Vielversprechender könnte das Ergebnis des Obama-Gipfels heute sein, denn die teilnehmenden Länder wollen sich verpflichten, die Zahl der weltweit umgesiedelten Flüchtlinge zu verdoppeln und die Zahl der Flüchtlingskinder, die Schulen besuchen, und die der Migranten mit Arbeitsgenehmigungen um je eine Million zu steigern.

Solche wohlfeilen Pläne sind angesichts des enormen Migrationsdrucks aber nur Tropfen auf den heißen Stein. Sorgen bereite der OECD aktuell die Lage in Mossul im Norden des Irak, wo 1,5 Millionen Menschen vor dem Terror der IS-Miliz flüchten, sagt OECD-Migrationsexperte Thomas Liebig. "Es kann durchaus sein, dass sich neue Fluchtrouten nach Deutschland als Alternative zur geschlossenen Balkan-Route auftun." Auch aus Afrika sei die Spitze der Migration längst nicht erreicht. Über das Mittelmeer kämen fast ausschließlich Afrikaner.

Noch habe die Migration in den OECD-Raum und nach Deutschland - verglichen mit dem, was der Libanon, Jordanien und die Türkei zu verkraften hätten - kein unverträgliches Maß erreicht. Allein die drei Nachbarländer Syriens hätten 4,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, ebenso viele wie der gesamte OECD-Raum. Auf Deutschland entfielen netto im vergangenen Jahr rund eine Million Flüchtlinge, von denen zwischen 500.000 und 650.000 erst im laufenden Jahr ihren Asylstatus erhalten dürften.

Für Deutschland vermeldet die OECD eine weitere Besonderheit: Bis Ende 2014 war die Migration aus anderen EU-Staaten viel bedeutsamer als die Fluchtmigration aus Drittstaaten. Drei Viertel der knapp 500.000 Zuwanderer im Jahr 2014 seien aufgrund der Arbeitnehmer-Freizügigkeit innerhalb der EU nach Deutschland gekommen. Asylbewerber aus Nicht-EU-Staaten spielten eine untergeordnete Rolle. Erst 2015 stieg die Zahl der Asylbewerber deutlich, wobei sich bis Mitte des Jahres auch die Zahl der Migranten vor allem aus Osteuropa auf konstant hohem Niveau hielt. "2015 kamen mehr Rumänen nach Deutschland als Afghanen und Iraker zusammen", sagte Liebig. Erst in den vergangenen Monaten zeichne sich ein erster leichter Rückgang der Migration aus anderen EU-Ländern ab. Dies könne eine Reaktion auf die hohen Flüchtlingszahlen sein, sagt Liebig. "Künftig wird die Konkurrenz um geringer qualifizierte Jobs zwischen den EU-Migranten und Flüchtlingen steigen", erklärt Herbert Brücker, Migrationsexperte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.

"Wichtig ist, dass der Arbeitsmarkt noch durchlässiger und flexibler wird: EU-Ausländer und qualifizierte Flüchtlinge müssen in höherqualifizierte Jobs aufsteigen können", sagt der Ökonom. Für die jüngsten Beschlüsse zur besseren Integration in den deutschen Arbeitsmarkt gibt es Lob von der OECD. "Die Weichen sind richtig gestellt worden", sagt Liebig. Die Zahl der Sprach- und Integrationskurse werde ausgebaut, Einstellungshindernisse beseitigt. Migranten, die früher im Schnitt zehn Jahre gebraucht hätten, bis sie erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert seien, könnten jetzt schneller Fuß fassen.

Vor allem Flüchtlinge mit geringerer Schulbildung und schlechteren Chancen strömten oft in die Ballungsgebiete, warnt der OECD-Experte. Es sei daher richtig, den Zuzug in die Städte durch die geplante Wohnsitzauflage auch für anerkannte Flüchtlinge so lange aufzuhalten, bis sie einen Job hätten.

Ohne gemeinsame Ansätze der internationalen Staatengemeinschaft werde der Flüchtlingsstrom nach Deutschland aber anhalten. Die OECD schlägt als ein Instrument zur Verringerung der Flüchtlingszahlen eine Umsiedlungs-Lotterie vor: Künftig sollen deutlich mehr Migranten aus UNHCR-Flüchtlingslagern und Krisengebieten in den OECD-Raum durch gesteuerte Umsiedlung einwandern dürfen. Ausgewählt werden sollen sie per Los: Dadurch würden viele, die sonst nicht ausgewählt würden, weil sie nicht krank oder bedürftig seien, ihre Flucht aufschieben, hofft die Pariser Organisation.

(mar)
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