Mumbai Fanatiker missbrauchen Indiens heilige Kühe

Mumbai · Indien galt lange als ein Hort religiöser Toleranz. Doch seit die nationalistische Hindu-Partei BJP an der Macht ist, nimmt die Gewalt zu.

Wenn Shah Rukh Khan die Bühne betritt, löst er Ekstase aus. Die Inder lieben den Filmschauspieler, und auch in Europa und den USA ist er durch unzählige Bollywood-Filme zum cineastischen Gesicht Indiens geworden. Der Superstar, der aus einer muslimischen Familie stammt, nahm nun aber seinen 50. Geburtstag zum Anlass, um auf die "extreme Intoleranz" hinzuweisen, die er in letzter Zeit in seinem Land festgestellt habe.

Khan spielte an auf eine Serie von religiös motivierten Übergriffen. Bisher war Indiens religiöse Toleranz legendär, doch nun vergeht kaum noch ein Tag, an dem nicht Angriffe von Hindu-Fanatikern Schlagzeilen machen. Medien sprechen von einer Welle des Hasses, die durchs Land schwappt. Gegner von Premier Narendra Modi sehen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seit Modi und seine hindunationalistische Partei BJP vor 18 Monaten die Macht übernahmen, fühlen sich religiöse Eiferer ermutigt. Viele der Fanatiker agieren im Dunstkreis der BJP oder sind, wie die Shiv Sena in Mumbai, ihre Koalitionspartner. Sie behaupten, Indien sei das Land der Hindus - und Andersgläubige nur geduldete Gäste.

Vor allem den Status von Kühen, die den 80 Prozent Hindus unter den über 1,2 Milliarden Indern als heilig gelten, peitschen die Hardliner zum tödlichen Politikum hoch. Immer mehr Bundesstaaten verbieten das Schlachten von Rindern, obwohl diese für viele Muslime eine wichtige Nahrungs- und Einkommensquelle sind. "Muslime dürfen weiter hier leben, aber nur wenn sie das Essen von Rindfleisch aufgeben", giftete Manohar Lal Khattar, BJP-Regierungschef von Haryana. Die Hindu-Kaderschmiede RSS legte nach: "Sünder", die Kühe schlachteten, müssten getötet werden, lautete ihre Forderung.

Auch die Kritik des Filmstars Shah Rukh Khan löste eine heftige Reaktion aus. BJP-Generalsekretär Kailash Vijayvargiya nannte Khan auf Twitter einen "Anti-Nationalisten". Khan lebe zwar in Indien, sei mit den Gedanken aber stets in Pakistan. "Er verdient Millionen mit seinen Filmen hier, findet aber Indien intolerant. Was bitte soll er sein, wenn nicht ein Verräter?"

Dabei ist der populäre Schauspieler nur eine von vielen Personen des öffentlichen Lebens, die zuletzt ihre Bestürzung geäußert haben über ein Klima, in dem Politiker und Interessengruppen Hindus und Muslime gegeneinander aufwiegeln oder die freie Meinungsäußerung unterbinden. Dutzende Schriftsteller und Intellektuelle gaben als Zeichen des Protests bereits ihren Sahitya Award zurück, eine hohe literarische Auszeichnung der nationalen Institution Sahitya Akademi. Angeführt wurden sie von der Autorin Nayantara Sahgal, einer Nichte von Indiens erstem Premierminister Jawaharlal Nehru. Die Attacken der Hindu-Extremisten seien ein "Versuch, die Idee Indiens zu zerstören", sagte sie.

Die Stimmung kippte Ende September, als es zu einem Lynchmord an einem Muslim im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh kam, nur rund 30 Kilometer entfernt von Indiens Hauptstadt Neu Delhi. Der Familienvater wurde Opfer eines aufgebrachten Mobs aus Hindus. Allein das Gerücht, er habe Rindfleisch zu Hause, und es sei womöglich von der Familie gegessen worden, kostete ihn das Leben. Einige der Täter sollen Verbindungen zur BJP haben, berichteten Medien.

Bereits Ende August war der 76-jährige Autor Malleshappa M. Kalburgi in seinem Haus von Unbekannten erschossen worden, offenbar weil er in einer Kritik des Aberglaubens auch Rituale des Hinduismus genannt hatte. Mitte Oktober überfielen Schlägertrupps in Mumbai den Vorsitzenden einer bekannten Denkfabrik und "brandmarkten" sein Gesicht mir schwarzer Farbe, weil er das neue Buch eines pakistanischen Ex-Außenministers vorstellte. In Delhi wurde ein muslimischer Politiker ebenfalls mit schwarzer Farbe "geteert", weil er für das Recht der Muslime eintrat, Rindfleisch zu essen. Immer wieder überfallen Hindu-Radikale Fleischtransporte. "Sie töten uns, und sie schwärzen unsere Gesichter", klagt der Minderheitenminister des Bundesstaates Uttar Pradesh, Azam Khan, selbst ein Muslim. "Wir wissen nicht, wohin und an wen wir uns wenden können."

Dem zivilen Protest gegen diese Welle der Gewalt und Intoleranz durch demonstrative Rückgabe von Auszeichnungen und Preisgeldern schlossen sich Filmemacher, Wissenschaftler, Historiker und zuletzt auch die international bekannte Schriftstellerin Arundhati Roy an. Die Revolte der Intellektuellen wurde von teils hochrangigen Politikern jedoch verhöhnt. So bezeichnete ein Minister die Protestierer als Teil einer "systematischen, orchestrierten und arglistigen Kampagne" vonseiten der politischen Opposition.

Der national renommierte Verfassungsrechtler und Historiker A.G. Noorani empfindet die Proteste der Intellektuellen indes als beispiellos: "Wenn die Meinungsfreiheit unterdrückt wird, ist eine Demokratie im Kern getroffen. Die massenhafte Rückgabe von Auszeichnungen ist eine spontane Reaktion auf die weit verbreitete Intoleranz. Zwar gab es ähnliche Aufstände in der Geschichte Indiens, aber diese Aktion sucht ihresgleichen." Weitere Proteste, so glaubt der Gelehrte, könnten den Druck auf die BJP-Regierung erhöhen. Wenig Unterstützung erwartet Noorani dagegen von der internationalen Gemeinschaft. "Das Image von Premierminister Narendra Modi ist zumindest in Indien selbst bereits angeknackst, und es wird sich sicher noch weiter verschlechtern. Aber die Regierungen anderer Länder wollen mit Indien in erster Linie Geschäfte machen. Sie sind pragmatisch, nicht idealistisch."

Angesichts des aufgeheizten Klimas interessieren sich viele Inder plötzlich für das Thema Säkularismus, also die Trennung von Religion und Staat, und das friedliche Zusammenleben verschiedener Konfessionen. "Unser erster Premierminister Jawaharlal Nehru war ein großer Verfechter des Säkularismus. Die BJP sieht ihn als Verräter an", sagt der Staatsrechtler Noorani.

(RP)
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