Edinburgh Schottland kommt von England nicht los

Edinburgh · Viele Schotten sind sauer über die harte Brexit-Politik der britischen Regierung. Aber die Unabhängigkeit wäre ein gewaltiges Wagnis.

Europäische Union - Schottland kommt von England nicht los
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Für Ash Denham gibt es keinen Zweifel. "Wir Schotten sind anders", betont die resolute 42-jährige Abgeordnete des schottischen Regionalparlaments. Und anders heißt vor allem: anders als die Engländer, jenes Nachbarvolk im Süden, das den Schotten den Brexit, den Austritt des Landes aus der Europäischen Union beschert hat. Denham ist Mitglied der SNP, der Schottischen Nationalisten, einer Partei, die lange Zeit neben der Unabhängigkeit so obskure Ziele wie den Austritt aus Nato und der EU verfolgt hat. Seit 2007 stellen die Nationalisten die Regierung, 2011 errangen sie sogar die absolute Mehrheit der Sitze, und seit 2016 bilden sie eine Minderheitsregierung.

Mit der Macht zog auch der politische Realismus bei den Nationalisten ein. Zur Nato haben sie inzwischen ein positives Verhältnis, in Bezug auf die EU geben sie sich gar als glühende Europäer. Den Brexit empfinden viele auf Unabhängigkeit fixierte Schotten als Schlag ins Gesicht des Landes. "Es gibt kein demokratisches Mandat, um Schottland aus der EU zu nehmen", wettert Denham. Die Finanz- und Haushaltsexpertin kann sich richtig ereifern, wenn die Rede auf "Westminster" kommt. Damit meinen die Schotten das britische politische System mit dem altehrwürdigen Parlament Westminster-Palast, dem Gebäude mit dem weltberühmten Big Ben, dem Wahrzeichen der britischen Demokratie. Doch mit der kann sich Denham überhaupt nicht anfreunden. Man müsse sich doch nur anschauen, wie die Abstimmung im Londoner Parlament zum Brexit-Gesetz gelaufen sei. "Mit einer einzigen Ausnahme entschieden sich alle schottischen Abgeordneten in Westminster für die EU", unterstreicht Denham, die aus einer alten Labour-Dynastie aus Glasgow kommt und einen Großteil ihres Lebens in England.

Allerdings ist der SNP ist nicht entgangen, dass nur zwölf Prozent der Wähler, die für einen Verbleib in der EU und gegen die Selbstständigkeit Schottlands gestimmt haben, nun ins Unabhängigkeitslager gewechselt sind. Dagegen sagen fast die Hälfte der Brexit-Wähler, dass sie nicht mehr für ein unabhängiges Schottland stimmen würden. Der frühere Chef der schottischen Liberaldemokraten, Tavish Scott, glaubt zwar, dass sich "alle Entscheidungen in der schottischen Politik um das Thema Unabhängigkeit drehen". Aber er ist sich auch ganz sicher, dass ein zweites Referendum ebenfalls scheitern wird: "Das ist das Ende der Nationalisten und das Ende von Nicola Sturgeon, der schottischen Ministerpräsidentin."

Sturgeon hat sich dennoch für die Machtprobe mit London und Premierministerin Theresa May entschieden. Selbst vielen Nationalisten ist das Risiko jedoch bewusst. Sie sind deshalb für Optionen jenseits der Unabhängigkeit offen. Es sind vor allem die schottischen Liberaldemokraten, die eine für Kontinentaleuropäer angenehme Agenda vorweisen. Sie treten für Europa und für das Vereinigte Königreich ein. Was wie die Quadratur des Kreises erscheint, begründet Willie Rennie, der neue Chef der Liberaldemokraten so: "Wir sind die einzige Partei in Schottland, die sowohl den gemeinsamen Markt in Großbritannien wie den gemeinsamen Markt mit der Europäischen Union will."

Welchen der beiden Märkte er im Falle eines harten Ausstiegs aus der EU bevorzugt, das lässt Rennie bewusst offen. Er hofft, dass die Briten zumindest über den Brexit-Deal mit der EU erneut abstimmen dürfen. "Das ist unser politisches Ziel. Und es ist vernünftiger als alles, was unsere Konkurrenz anzubieten hat", ist Rennie überzeugt. Pech nur, dass sich die liberale Mitte komplett aus dem politischen Prozess herausgeschossen hat. Gerade mal fünf Mandate zählt die Partei im 129 Abgeordnete starken schottischen Parlament. "Die sind gar nicht mehr vorhanden", spottet die Nationalistin Denham. Und auch der frühere Liberalen-Chef Scott gibt zu, dass sich seine Partei vom "Nick-Clegg-Desaster noch nicht erholt hat". Der frühere Vorsitzende der britischen Liberaldemokraten hatte einst als wichtigstes Ziel seiner Partei ein neues Wahlrecht und die Gebührenfreiheit der englischen Universitäten versprochen und konnte beides im Kabinett David Cameron nicht halten. Desaströse Niederlagen bei den Wahlen im Vereinigten Königreich und in Schottland waren die Folge.

Doch auch die schottischen Nationalisten scheinen am Gipfel ihrer Macht angelangt zu sein. Denn so richtig können sie mit ihrem Fernziel Unabhängigkeit nicht mehr punkten, vor allem seit dem verlorenen Referendum 2014. Zurzeit beschädigen eher die Probleme des nationalen Gesundheitswesens, der überteuerten Wohnungen in Städten wie Edinburgh oder Glasgow oder verschlechterte Bildungschancen den Ruf der erfolgsverwöhnten Partei. "Schottland ist nicht so gut, wie es scheint", ist der konservative schottische Abgeordnete Jeremy Balfour überzeugt. Der Tory und überzeugte Anhänger der britischen Einheit ist der einzige Behinderte im Parlament in Edinburgh. Ihm fehlt der linke Arm, der rechte ist seit seiner Geburt verkrüppelt. Aber der bodenständige Abgeordnete strahlt eine eiserne Energie aus. "Schulden, hohe Steuern, schlechte Wirtschaftsaussichten - diese Legislatur wird für die Nationalisten düster enden", ist Balfour überzeugt.

Tatsächlich wächst Schottland, das sich vor dem Referendum brüstete, reicher als England zu sein, nicht mehr so schnell wie Großbritannien insgesamt. Im dritten Quartal des vergangenen Jahres legte die schottische Wirtschaft gerade mal mit einer Rate von 0,7 Prozent zu, während das gesamte Land um stolze 2,2 Prozent wuchs. Auch bei der Arbeitslosigkeit liegt Schottland leicht über den Werten Großbritanniens und insbesondere Englands, obwohl die Rate mit 5,1 Prozent zu den besten in Europa zählt und nur leicht über dem deutschen Vergleichswert liegt.

Für die Nationalisten ist das kein Problem. Der Wirtschaftsexperte der regierenden Partei in Schottland, Colin Beattie, zeigt beruhigend auf die enormen finanziellen Ressourcen seines Landes. Das schottische Finanzsystem würde im Falle der Unabhängigkeit mit 90 Milliarden Pfund über die größten Sterling-Reserven des Welt verfügen, rechnet der Schatzmeister der Schottischen Nationalisten vor. "Wir sind auf die Unabhängigkeit vorbereitet", ist sich Beattie sicher. Doch ob ein schottisches Pfund sich auf Dauer gegen die Währung in London behaupten kann, ist fraglich. Ohne spezielle steuerliche Anreize würde das Finanzzentrum Edinburgh, immerhin die Nummer zwei auf der Insel, gegenüber London verlieren. Die Ölreserven Schottlands schwinden. Und die engen Verflechtungen des Landes mit England, Wales und Nordirland - immerhin gehen vier Mal so viele Waren dorthin wie in die EU - stünden auf dem Spiel.

Selbst bei einem harten Brexit, so erwarten viele Experten, würde sich Schottland innerhalb des Vereinigten Königreichs noch besser stellen als im Falle der Unabhängigkeit. Gut möglich, dass auch ein Auszug der gut ausgebildeten Kräfte, der Forscher und Techniker nach England einsetzt, wenn die Aussichten in Schottland schlechter werden. Für die Schotten dürfte es auch schwieriger werden, ihr Sozial- und Gesundheitssystem, ihre Bildungseinrichtungen oder einen bezahlbaren Wohnungsmarkt zu finanzieren. Darauf setzt wiederum die derzeit so schwache Labour-Party, die für Jahrzehnte Schottland dominierte. Die schottische Labour-Chefin Kezia Dugdale hat deshalb als Devise ausgegeben, sich zuerst um die Probleme des Landes zu kümmern und die "Unabhängigkeits-Obsession" der Nationalisten zu überwinden.

(kes)
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