Udo Di Fabio "Die Transferunion wäre ein politischer Sprengsatz"

Bonn · Der Staatsrechtslehrer, frühere Verfassungsrichter und Autor Udo Di Fabio blickt über den Tellerrand seines Fachs hinaus. Wir sprachen mit dem Intellektuellen über die Krise Europas und Deutschlands Verankerung im Westen.

 Reinhold Michels im gespräch mit Udo Di Fabio (links).

Reinhold Michels im gespräch mit Udo Di Fabio (links).

Foto: Bernd Schaller

Was halten Sie von dem Dreisatz, den der Münchner Franz Josef Strauß (1915-1988) aufgestellt hat: "Bayern ist unsere Heimat, Deutschland unser Vaterland, Europa unsere Zukunft"?

Di Fabio Wäre ich Bayer, hielte ich den Dreisatz immer noch für richtig. Nur weiß man heute nicht genau, welche Zukunft Europa hat.

Eben.

Di Fabio Die Zukunft Europas ist ungewisser geworden, als das vor zwei Jahrzehnten der Fall war. Trotzdem gilt die Präambel des Grundgesetzes, die den Deutschen den Auftrag erteilt, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen".

Ihnen als federführendem Richter des Grundsatz-Urteils 2009 zum EU-Vertrag von Lissabon wird Europa-Skepsis unterstellt.

Di Fabio Zu Unrecht. Im Urteil ist ausdrücklich von der Integration als verfassungsrechtlicher Aufgabe die Rede.

Befürchten Sie eine neue unheilige Allianz der Extreme von links und rechts, an der ein vereintes Europa sukzessive zugrunde geht?

Di Fabio Europa war ein Projekt der Eliten, und zwar ein gutes. Die Eliten aus Politik, Wirtschaft, Universitäten haben in den 50er Jahren gesehen, dass man nicht in den alten Nationalstaats-Modus zurückfallen kann. Deshalb war das europäische Projekt ein Angebot, Freiheit und Wohlstand zu schaffen, um den alten Protektionismus der Nationalstaaten zu brechen.

Das Wohlstands-Angebot verflüchtigt sich gerade, nicht nur in Griechenland, oder?

Di Fabio So manches verflüchtigt sich mit dem Erfolg. Der EU-Binnenmarkt ist ein großer Erfolg. Der Mensch neigt dazu, die Entstehungsbedingungen des Erfolges zu vergessen, sobald Letzterer eingetreten ist.

Mehr Elend durch weniger Europa?

Di Fabio Falls Europa in Protektionismus zurückfiele, bekämen wir mehr Elend und Armut. Aber klar ist auch: Das sehr stark wirtschaftlich integrierte Europa erzeugt hohen Anpassungsdruck. Und auf diesen Druck hin muss man in den Mitgliedstaaten mit populistischen Gegenbewegungen rechnen.

Wo bleibt die große Erzählung von den Vorteilen der EU?

Di Fabio Wir brauchen keine neue große Erzählung, aber wir benötigen die Erinnerung an die eigentliche Erzählung. Dass nämlich Europa ein Friedensprojekt ist.

Was Helmut Kohl stets betont hat.

Di Fabio Ja, das hat Kohl richtig gesagt. Aber er war manchmal auch mehr Historiker als ein wirtschaftlich denkender Mensch.

Sie spielen auf den ökonomischen Geburtsfehler des Euro an?

Di Fabio Zur großen Erzählung über Europa gehört auch, dass das Friedensprojekt nur über eine wirtschaftliche Rahmenordnung gelingt. Und diese Erzählung ist vor lauter Beschwörung einer politischen Union in den Schatten geraten. Heute wird die politische Union gefährdet, weil man wirtschaftliche Rahmenbedingungen vernachlässigt hat.

Ist der Euro Dynamit unterm Haus Europa?

Di Fabio Die Grundfreiheiten und der Binnenmarkt haben die EU zur Kooperation verurteilt und damit den nationalen Egoismus eingedämmt. Ein wirksamer Hebel. Mit dem Euro hat man den Hebel verlängert in der Hoffnung, dass dies ausreiche, um Europa Richtung Bundesstaat zu bewegen. Das ist nicht eingetreten. Ich frage mich, ob nicht das Hebelmoment Europa zu stark unter Druck setzt.

Also weg mit dem Euro?

DI Fabio Dieser Meinung bin ich nicht, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Regeln eingehalten werden.

Das Recht wird missachtet, wohin man in der EU schaut.

Di Fabio Mit der Forderung, das Recht einzuhalten, sind wir Juristen immer auf der sicheren Seite. Als Bürger oder Sozialwissenschaftler würde ich fragen: Können solche Regeln überhaupt eingehalten werden, ohne die Gefahr des Populismus zu erzeugen? Können strikte Fiskalregeln in diesem heterogenen Euro-Raum funktionieren? Oder lasten sie in einer destruktiven Weise auf demokratischen Prozessen?

Böte der Austritt eines Euro-untauglichen Landes die Chance zu einer schöpferischen Zerstörung der falsch eingefädelten Währungsunion? Alles auf Anfang, dann aber klüger?

Di Fabio Frommer Wunsch. Wenn man einen Pfad wie die Währungsunion eingeschlagen hat, kann man nicht die Reset-Taste drücken.

Was kann man denn machen?

Di Fabio Man könnte Elastizität vorsehen, das heißt, wo man nur unter Bedingungen eintreten kann, müsste doch eigentlich bei Bruch der Bedingungen ein Austritt möglich sein. Die Furcht, dass etwa bei einem "Grexit" der ganze Euro erodieren würde, muss man ernst nehmen. Wenn jedoch ein Mitglied auf Zeit austreten und womöglich nach fünf oder acht Jahren wieder eintreten würde, wäre das auch ein Signal, dass die Währungsunion gerade deshalb stabil ist, weil sie auch elastisch reagieren kann. Im Augenblick haben wir Angst vor Elastizität. Ich frage mich, ob die Starrheit auf Dauer nicht riskanter für den Euro ist. Starrheit kann Zeichen der Schwäche sein.

Wie groß erscheint Ihnen die Gefahr, dass ein Kleinbürgertum den EU-feindlichen Populisten von links und rechts immer bereitwilliger auf den Leim geht?

Di Fabio Ich sehe die Gefahr auch in Deutschland. Wir haben den Front National als starke Kraft in Frankreich. Wir beobachten Linkspopulismus in Griechenland und anderswo, Rechtspopulismus in Ungarn. Radikale Linke wie Rechte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Funktionslogik Europas nicht akzeptieren. Die einen schauen rückwärtsgewandt nach nationaler Abgeschlossenheit, andere ignorieren das Prinzip demokratischer Eigenverantwortung, die Rechtsbindung und die Marktgesetzlichkeiten, auf denen Europa ruht. Beides ist brandgefährlich für den Zusammenhalt Europas.

Sie haben den Nationalstaat stets als etwas mitnichten Gestriges dargestellt. Sind Sie für ein Europa der Vaterländer à la Charles de Gaulle?

Di Fabio Europa der Vaterländer - das wäre mir zu nationalegoistisch gedacht. Mein Konzept ist die offene Nation, die sich auf Integration ausrichtet, auf internationale Zusammenarbeit und aktive Friedenserhaltung. Ich bin für einen deutschen und europäischen Patriotismus, der mit Empathie auf die Welt schaut und der die eigene Verantwortung wahrnimmt. Mein Patriotismus orientiert sich an Heinrich Heine: Man liebt sein Vaterland, wenn dort die Freiheit geachtet und garantiert wird. Nicht angemessen für Europa erscheinen mir gelegentliche Illusionen in Deutschland und Frankreich über eine imperiale Neuschöpfung Europas, garniert mit Begriffen wie Zentralisierung und Wirtschaftsregierung. Das stünde der vernünftigen europäischen Ordnung zum Interessenausgleich durch Verhandlungen entgegen.

Deutschland steht als stärkstes EU-Land wieder am Pranger. Hat man uns, frei nach Churchill, entweder zu Füßen oder an der Kehle?

Di Fabio Deutschland wird in Europa nie ein Hegemon sein, dafür ist es dann doch zu schwach. Das ist auch gut so. In Europa hat es seit Ende des Römischen Reiches keinen wirklichen Hegemon gegeben. Aber die Deutschen werden gerne als Folie benutzt für bestimmte Strukturprobleme anderer. Mal stört man sich an deutscher Untätigkeit, mal an deutscher Aktion.

Also gelassen damit leben lernen?

Di Fabio Wir müssen damit leben, dass wir unter Beobachtung stehen und dass manche ihre sachlichen Interessen über den Umweg nationaler Ressentiments formulieren.

Wäre eine Transferunion, wie sie Athen und auch Rom vorschwebt, verfassungswidrig?

Di Fabio Wahrscheinlich wäre sie das. Aber entscheidend ist: Eine Transferunion ginge an die Substanz und wäre ein politischer Sprengsatz. Sie wäre nicht zu finanzieren. Wenn wir nur die Summen betrachten, die im halbwegs homogenen Bundesstaat Deutschland beim Länderfinanzausgleich bewegt werden . . . da bräuchte man bei einer Transferunion unter einer Billion Euro nicht anfangen zu reden. Wenn die Menschen in der EU mitbekämen, dass Europa hauptsächlich Last bedeutet, würde so etwas wie die Lega Nord in Italien zu einem gesamteuropäischen Phänomen.

Macht Deutschland Halt auf seinem "langen Weg nach Westen"?

Di Fabio Ich sehe die Gefahr, und zwar beim Blick nach rechts wie nach links. In Deutschland erscheinen antiwestliche Ressentiments in neuer Verkleidung. Antiamerikanismus ist ganz rechts weit verbreitet, unterschwellig hat er auch etwas mit Antisemitismus zu tun. Aber es gibt auch eine in Europa weit verbreitete antikapitalistische, antiamerikanische Kritik am Westen, die glaubt, man könne die Logik des Marktes politisch brechen.

Was kann Deutschland zur geistigen Führung beitragen?

Di Fabio Wir müssen mehr werben für unser seit Jahrzehnten entwickeltes Bündnis von rechtsstaatlicher Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist ein Zukunftsmodell für Europa.

Reinhold Michels führte das Gespräch.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort