Interview mit dem britischen Bildhauer Tony Cragg "Ein gravierender historischer Fehler"

Wuppertal · Der britische Bildhauer Tony Cragg, der in Wuppertal lebt, hat sich immer stark gemacht für einen Verbleib der Briten in der Europäischen Union. Dementsprechend schockiert war er über das Ergebnis der Volksabstimmung in seinem Heimatland.

 Der Brite Tony Cragg lebt in Wuppertal.

Der Brite Tony Cragg lebt in Wuppertal.

Foto: Nico Hertgen

Cragg lebt seit vier Jahrzehnten schon in Wuppertal. Dort betreibt er den Skulpturenpark Waldfrieden. Der 67-Jährige stellte in all fast allen großen Museen dieser Welt aus, er lehrte Bildhauerei unter anderem in Berlin und Düsseldorf und war Direktor der Kunstakademie in Düsseldorf.

Herr Cragg, wo hat Sie die Nachricht vom EU-Austritt Ihrer Landsleute erreicht?

Cragg Ich war heute Morgen schon sehr früh unterwegs und habe darum die Nachricht im Auto gehört.

Haben Sie denn mit dieser Entscheidung gerechnet?

Cragg Ich bin abends ins Bett gegangen und habe wirklich gehofft, dass es gut ausgehen würde, also dass die Briten in der Europäischen Union bleiben werden. Als ich dann die Nachricht hörte, war ich wirklich entsetzt. Ich bin traurig und sehr betroffen über das Ergebnis der Abstimmung. Und ich halte es für einen gravierenden historischen Fehler.

Bei wem liegt Ihrer Ansicht nach die Schuld? Ist es Brüssel? Oder sind es die britischen Politiker?

Cragg Das ist schwierig zu sagen. Zumal Europa ja wirklich kein ideales Konstrukt ist. Wenn etwas Gutes bei dieser Wahl herausgekommen ist, dann die Erkenntnis, dass die EU sich von Grund auf reformieren muss. Dazu gehört das Beamtenwesen mit seinem viel zu komplizierten Regelwerk. Das Komische ist nun, dass die Briten an diesem Regelwerk nichts ändern werden. Im Gegenteil: Sie werden, wenn sie weiter Handel mit Europa treiben, sich diesem Regelwerk auch künftig stellen müssen — und als Nicht-Mitglied wahrscheinlich sogar intensiver als bisher. Was mich noch mehr bedrückt, ist, dass wir 70 Jahre Frieden in Europa gehabt haben. 70 glückliche Jahre, 70 Jahre in relativem Wohlergehen und 70 Jahre, in denen die Nationen Verständnis füreinander entwickelt haben. Europa bedeutet auch mit seinen vielen verschiedenen Kulturen einen Reichtum, den man eigentlich feiern und genießen muss. Wir haben doch alle von dem Zusammenwachsen in Europa wahnsinnig profitieren können. Als Britannien Europa beigetreten ist, ging es uns gar nicht gut. Die britische Nation galt sogar als der kranke Mann in Europa. Jetzt prahlen die britischen Politiker damit, dass sie die fünftgrößte Wirtschaft in der Welt haben. Mir ist unbegreiflich, wie diese Leute nicht kapieren, dass der einzige Grund für diesen Aufschwung ist, dass wir Mitglied der Europäischen Union gewesen sind.

Warum ist es dann zu dieser Entscheidung gekommen?

Cragg Ich kann das Gefühl einfach nicht verdrängen, dass die britische Bevölkerung eigentlich reingelegt worden ist Von einer Gruppe scheinpatriotischer Politiker, die sonst kaum eine Chance hat, erfolgreich aufzutreten. Es ist jedenfalls eine wahnsinnig reaktionäre Entscheidung.

Fürchten Sie, dass das Verhältnis der anderen Europäer zu den Briten sich nun verschlechtern wird?

Cragg Ein Beispiel: Stellen Sie sich bitte einmal vor, dass Irland in der Europäischen Union ist. Aber Nordirland jetzt nicht mehr. Nun müssen wieder Grenzen aufgebaut werden, ebenso Zollstationen, da es sehr unterschiedliche wirtschaftliche Systeme sind.

War es ein Fehler, über den Verbleib in der Europäischen Union abstimmen zu lassen?

Cragg Es ist mir unbegreiflich, wie man so dumm sein kann, ein so komplexes Thema mit einer Volksabstimmung — also nur mit Ja und Nein —entscheiden zu lassen. Das verhindert nämlich die absolut notwendige Tiefe der Diskussion. Stattdessen ist das Thema in die Hände von Rechtspopulisten und Spekulanten gefallen. Man könnte ebenso gut ein Referendum darüber abhalten, ob man Steuer bezahlen soll oder nicht. Alle wissen, dass so eine Frage Unsinn wäre. Jetzt werden in Europa aber alle Rechtspopulisten ebenfalls nach einer Volksbefragung verlangen.

Mit Tony Cragg sprach Lothar Schröder.

Mehr über den Brexit lesen Sie hier.

(los)
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