Abgeordnete im EU-Parlament Der Reintke-Report

Straßburg · Terry Reintke ist die jüngste Abgeordnete im EU-Parlament. Sie kämpft für Randgruppen-Rechte – und mit dem politischen Apparat.

 Terry Reintke (28) arbeitet im EU-Parlament in Straßburg.

Terry Reintke (28) arbeitet im EU-Parlament in Straßburg.

Foto: Stephanie LECOCQ

Terry Reintke ist die jüngste Abgeordnete im EU-Parlament. Sie kämpft für Randgruppen-Rechte — und mit dem politischen Apparat.

Juli 2014. Theresa "Terry" Reintke (Grüne) erlebt gerade ihre erste Woche als Abgeordnete im EU-Parlament. Mit 26 Jahren ist sie die jüngste weibliche Abgeordnete im Haus. Um sich den Wählern vorzustellen, dreht sie ein Video. Reintke kommt im knallgrünen Shirt ins Bild gesprungen, albert mit den Kollegen herum. "Was?" "Geil!" "Sauber!" Medien stürzen sich darauf, ein Satire-Magazin schneidet die Szenen zusammen. Der erste große Auftritt landet im Fettnapf.

23. November 2015. Die 28-Jährige sitzt in ihrem Büro im fünften Stock des EU-Parlaments in Straßburg, das grüne Shirt ist einem schwarzen Dress gewichen. "Wenn man hinfällt, muss man wieder aufstehen. Sonst darf man den Job nicht machen", sagte sie. Auf dem Schreibtisch liegt der Entwurf zum wichtigsten Papier ihrer bisherigen Karriere. "Bericht über das Thema ,Kohäsionspolitik und gesellschaftliche Randgruppen' (2014/2247(INI))". Der Reintke-Report.

Im November 2014 wird Terry Reintke zum Rapporteur benannt - ungewöhnlich früh, wie es im Parlament heißt. Da das EU-Parlament keine Gesetzesvorschläge machen kann, sind Initiativberichte eine Möglichkeit, die Kommission dazu aufzufordern, bei einem bestimmten Thema aktiv zu werden. Der Rapporteur ist maßgeblich für das Papier verantwortlich. Es wird verhandelt und um Formulierungen gefeilscht, am Ende steht ein Konsens. Im besten Fall.

Ein Jahr lang hat sich Reintke mit der systematischen Benachteiligung von Randgruppen in der EU auseinandergesetzt - allen voran Roma. Sie hat das ungarische Dorf Sajokaza besucht, in dem Roma unter unwürdigen Bedingungen leben. "160.000 Euro an EU-Fördermitteln sind nach Sajokaza geflossen. Bei den Roma ist nichts davon angekommen", sagt Reintke. Stattdessen hat der Ortskern drei Kilometer entfernt einen hübschen Springbrunnen erhalten. "Wir verschwenden zu viel Geld, investieren noch zu oft an der falschen Stelle", sagt sie. All das schreibt Reintke in ihren Bericht - und erntet Empörung.

Die ENF, Rechtsaußen im Europaparlament, hat für die Abstimmung der 751 Abgeordneten im Plenum am Dienstag ein Dutzend Änderungs-Anträge vorbereitet. Bekannte Taktik der Fraktion. "Bei den Roma und der Korruption wird es aber knapp", sagt sie. Der Reintke-Report nennt Roma ausdrücklich als besonders betroffene Randgruppe in Europa und spricht sich für die transparente Bekämpfung von Korruption bei der Verwendung von EU-Mitteln aus. Dagegen formiert sich breiter Widerstand. Mit vielen Kollegen hat Reintke das Gespräch gesucht, versucht Überzeugungsarbeit zu leisten. Es wird eng.

Terry Reintke stammt aus einem eher konservativen Elternhaus in Gelsenkirchen, seit ihrer Jugend ist sie als politische Aktivistin auf der Straße unterwegs. Für die Rechte von Frauen und Homosexuellen. Für Jugendliche, Flüchtlinge und Randgruppen. Sie studiert Politikwissenschaften in Berlin, den Grünen tritt sie erst nach ihrem Studium 2012 bei. Einmal im Monat kommt sie aus einer WG in Duisburg nach Straßburg. Wenn Reintke in der Öffentlichkeit spricht, wirkt sie auf manche zu viel von allem: zu höflich oder zu beharrlich. Kritiker legen ihr das als Naivität aus. Von ihrem Konzept bringt sie das nicht ab.

Am Abend vor der Abstimmung hat Terry Reintke ihren letzten großen Auftritt, ihr Publikum ist überschaubar. Etwa 20 Abgeordnete sitzen noch im Plenarsaal, Eins-Zu-Eins-Betreuung durch die Simultan-Übersetzer. Den schwarzen Dress vom Mittag hat Reintke abgelegt, stattdessen trägt sie eine gelbe Jacke, darunter das Stück einer Roma-Designerin. Vier Minuten hat sie Zeit, den Bericht vorzustellen. Sechs Redner melden sich anschließend, einer wirft der Grünen vor, sie habe die Roma allein aus ideologischen Gründen in den Bericht geschrieben.

Am Tag der Entscheidung ist der Plenarsaal nahezu voll besetzt. Erst geht es um die Verringerung von Ungleichheit mit besonderem Schwerpunkt auf Kinderarmut, schließlich um Kohäsionspolitik und gesellschaftliche Randgruppen - der Reintke-Report. Ein Punkt nach dem anderen kommt zur Abstimmung. Sogar Abgeordnete der SPD stimmen gegen die Korruptions-Passage. Der rechte Rand veweigert den gesamten Bericht: Udo Voigt von der NPD genau wie Franzose Le Pen. Am Ende kann sie aber jeden einzelnen Punkt für sich entscheiden. Für den Bericht erhält Reintke eine große Mehrheit: 574 zu 84. In Belgien wird #Reintkereport zum Trend auf Twitter, in die Nachrichten schafft es Reintke nicht. Im Gegensatz zu einem Weihnachtsbaum, der in der Kantine aufgebaut wird. Der stammt aus dem Fichtelgebirge und dient einem guten Zweck. Darüber berichtet das Fernsehen.

Mittlerweile hat Terry Reintke ihren zweiten Initiativbericht eingereicht. Chancengleichheit für Frauen in der digitalen Welt. Das Verhandeln beginnt von vorne.

(lukra)
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