Nach Erdogan-Besuch in Brüssel Der starke Mann am Bosporus

Meinung | Brüssel · Der Besuch des türkischen Präsidenten in Brüssel zeigt: Die EU kommt an Ankara nicht vorbei, wenn es um die Flüchtlingskrise geht. Das hilft dem Machtpolitiker Erdogan - so sehr, dass Kritiker schon einen faulen Deal wittern.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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Recep Tayyip Erdogan ist dieses Mal nicht als Bittsteller nach Brüssel gekommen, der die festgefahrenen EU-Beitrittsverhandlungen wiederbeleben und Visa-Erleichterungen für seine Bürger haben will. Er hat sich am Montag auch nicht vorrangig für die Verfolgung kritischer Journalisten und kurdischer Politiker rechtfertigen müssen. Zum gefragten Mann, dem Wünsche erfüllt werden, ist der türkische Präsident vielmehr im Zuge der Flüchtlingskrise geworden. "Die Türkei spielt eine wichtige und zentrale Rolle bei deren Bewältigung", sagte der Sprecher von Kommissionschef Jean-Claude Juncker, der Erdogan zusammen mit den anderen EU-Spitzen empfing.

Das Mandat dafür hatten sie vor knapp zwei Wochen vom EU-Sondergipfel erhalten, der eine "Verstärkung des Dialogs auf allen Ebenen" beschlossen hatte, "um unsere Zusammenarbeit bei der Bewältigung und Steuerung der Migrationsströme auszubauen". Das stellte eine Kehrtwende dar, weil das Verhältnis zu Ankara zuletzt immer stärker abgekühlt war. "Es ist gut", so ein hochrangiger EU-Diplomat, "dass nun alle wieder die strategische Bedeutung des Landes erkennen und die Beziehungen nicht auf die auf Eis liegenden Beitrittsgespräche beschränkt sein darf." Und allen ist klar, dass das etwas kostet - finanziell wie politisch: "Für einen vernünftigen Dialog", hatte es schon vor dem jüngsten Gipfel aus dem Bundeskanzleramt geheißen, "muss man auch auf das eingehen, was die Türkei vorschlägt."

Die Europäische Union will also etwas von der Türkei - und zwar dass der Flüchtlingsstrom Richtung Europa abschwillt und die Regierung in Ankara ihren Teil dazu beiträgt. So sollen sowohl die grüne Grenze zu Griechenland als auch der kurze Seeweg auf die Inseln Kos oder Lesbos viel stärker gesichert werden als bisher. Dazu soll es den ersten Überlegungen eines Brüsseler Aktionsplans zufolge gemeinsame griechisch-türkische Patrouillen geben, die von der EU-Grenzschutzagentur Frontex koordiniert würden. Die Türkei müsste sich demnach verpflichten, alle an der abgeriegelten Grenze zurückgewiesenen Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen.

Erstaunlich sind die Zahlen, die im Raum stehen und in Brüssel bestätigt werden - als "Größenordnungen, über die man nachdenken könnte". Weitere zwei Millionen Flüchtlinge vorrangig aus Syrien soll die Türkei beherbergen - in sechs neuen Aufnahmelagern. Dafür würden aus dem EU-Etat 250 Millionen Euro bereitgestellt - zusätzlich zu der Milliarde, die in den vergangenen Wochen bereits angekündigt wurde. Ziel ist, die Lebensbedingungen für Flüchtlinge so erträglich zu gestalten, dass sie sich gar nicht erst auf den Weg nach Westen machen. Zurzeit nämlich sind viele Gemeinden und lokale Strukturen überfordert, stehen Gesundheits- und Bildungssystem vor dem Kollaps, wie ein Brüsseler Türkei-Experte berichtet.

Flüchtlinge: In diesen Regionen der EU ist der Andrang besonders groß
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Foto: dpa, kc jak

Neben dem Geld soll auch ein großes "Resettlement-Programm" für Entlastung sorgen - bis zu 500.000 Menschen könnten aus den Flüchtlingslagern in der Türkei ohne die oft tödliche Reise in die EU umgesiedelt werden. Ein weiteres Bonbon: Das visumsfreie Reisen, das vor allem türkische Geschäftsleute seit Jahren erfolglos einfordern, könnte nun Realität werden.

Ob Erdogan eingeschlagen hat, war am gestrigen Abend, der in einem langen Abendessen mit Juncker, EU-Ratschef Donald Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz mündete, noch nicht zu erfahren. Zumindest aber gab Erdogan der EU keinen Korb, sondern sagte, sein Land sei "offen für alle Arten von Kooperation in Migrationsfragen". Mit einer sofortigen Entscheidung war wegen des laufenden türkischen Wahlkampfs ohnehin nicht gerechnet worden. "Wir haben heute einen Prozess gestartet", sagte ein hochrangiger Diplomat. "Erdogan dürfte sich vor den Wahlen jedoch kaum zu etwas verpflichten." Zumal wenn es um die Aufnahme vieler neuer Flüchtlinge geht in einem Land, dessen Wirtschaft zuletzt außer Tritt gekommen ist und weniger Steuern zahlt, die für die Begleichung der bisherigen Rechnung für die Flüchtlingsunterbringung in Höhe von sieben Milliarden Dollar notwendig sind.

Diese Sichtweise jedoch spielt herunter, dass das nun auf dem Tisch liegende Angebot der Europäer Erdogan schlicht noch nicht reichen könnte. So verlangte der türkische Staatschef erneut Unterstützung für seine Idee, Schutzzonen für Flüchtlinge in Syrien einzurichten - wozu es ein militärisches UN-Mandat bräuchte. Und Erdogan sieht sein Land naturgemäß auf der Liste sicherer Drittstaaten für Flüchtlinge. Von der EU-Kommission und Schulz bekam er dafür Unterstützung: "Es ist absolut unmöglich, von der Türkei einerseits als Beitrittskandidat zu sprechen, ihm andererseits aber den Status eines für Flüchtlinge ungefährlichen Landes zu verweigern." Die Bundesregierung sieht das bisher anders, weil die Asyl-Anerkennungsquote speziell türkischer Kurden in Deutschland deutlich höher ist als für Menschen vom Balkan. Allerdings seien "die Beratungen noch nicht abgeschlossen", räumt ein EU-Diplomat ein. Die Debatte darüber, wie die Beitrittsgespräche mit der Türkei wiederbelebt werden könnten, hat noch nicht einmal begonnen.

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Die Gemeinschaft könnte also noch weiter auf Erdogan zugehen, als dies bisher schon bekannt ist. "Die EU ist bereit, mit der Türkei über alles zu reden", sagte Tusk nach dem Treffen. Das ist viel mehr, als den Kritikern lieb ist. "Wenn Erdogan Flüchtlinge aufhält, darf er weiter kritiklos Kurden und Journalisten verfolgen", rügt die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller, "so sieht der Deal aus." Die Organisation Pro Asyl sprach von einer "moralischen Bankrotterklärung Europas".

(RP)
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