Interview mit Martin Schulz "Syrer sind in der Türkei sicher"

Berlin · Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, sieht die Türkei als Schlüsselland zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Von der Bundesregierung fordert er mehr Flexibilität in der Haushaltspolitik. Steuererhöhungen lehnt er ab.

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Martin Schulz war zu Besuch in unserer Berliner Redaktion. Der SPD-Politiker und Präsident des Europäischen Parlaments mit dem Aachener Zungenschlag stützt den Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik.

Ist es richtig, dass die Europäer Erdogan hofieren, damit er den Flüchtlingszustrom nach Europa bremst?

Schulz Die Türkei ist ein Schlüsselland bei der Bewältigung der Flüchtlingsbewegung. Dort leben bereits 2,5 Millionen Flüchtlinge. Wir müssen also mit der Türkei zusammenarbeiten.

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Foto: dpa, shp

Werden die Flüchtlinge dort angemessen versorgt?

Schulz Bei der Betreuung der Flüchtlinge ist die Türkei besser als manches Land in der EU. Die Türkei betreut knapp 600.000 Menschen in Lagern, in einer vorbildlichen Art und Weise. Kilis etwa an der türkisch-syrischen Grenze ist eine Stadt von 103.000 Einwohnern mit 125.000 Flüchtlingen, wo versucht wird, jede Familie gut und menschenwürdig unterzubringen. Dort gibt es sogar Grund- und weiterführende Schulen. Die Türkei weist darauf hin, dass sie bislang sieben Milliarden Dollar aufgewendet hat. Sie möchte nun aus Europa drei Milliarden Euro Finanzhilfen haben. Ich halte es für vernünftig, der Türkei finanziell zu helfen. Es ist auch richtig, Visa-Erleichterungen zu schaffen, die gerade auch für die Geschäftswelt wichtig sind, und die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen. Die Flüchtlinge aus Syrien sind in der Türkei sicher.

Finden Sie den Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise richtig?

Schulz Frau Merkel liegt insofern richtig, als die Europäische Union und Deutschland wirtschaftlich und politisch in der Lage sein müssen, eine solche Krise zu bewältigen. Man bewältigt eine Krise aber nicht, indem man sagt: Lasst die Leute kommen, gleichzeitig aber nicht klarmacht, wo das Geld dafür herkommen soll. Die Last tragen die Bürgermeister in Städten und Gemeinden, die die Flüchtlinge versorgen müssen. Da brauchen wir eine viel pragmatischere Haltung, dass die Verantwortlichen vor Ort ihre Aufgabe auch bewältigen können. Dazu gehört auch die Bereitschaft, zumindest für einen kurzen, überschaubaren Zeitraum nicht dogmatisch und starr an seiner Haushaltspolitik festzuhalten.

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Berlin hätte also einfach mal das Scheckbuch zücken sollen in der Flüchtlingskrise?

Schulz Die Formulierung ist falsch. Berlin muss seinen Verpflichtungen nachkommen. Man kann nicht eine Entscheidung treffen, die Bund und Ländern Hunderttausende von Flüchtlingen beschert, und diese dann mit den Problemen alleinlassen.

Die 670 Euro pro Monat und Flüchtling sind doch kein Pappenstiel.

Schulz Natürlich nicht. Aber ich kann nicht beurteilen, ob das wirklich die wahren Kosten widerspiegelt. Jedenfalls kann die Konsequenz aus Merkels Haltung, dass es für Deutschland keine Obergrenze bei der Aufnahme politisch Verfolgter gibt, nur die sein, dass die gesamte Regierung, inklusive der Finanzpolitiker, an einem Strang zieht. Leider ist das nicht der Fall. Ich sehe nur eine Partei, die uneingeschränkt hinter der Politik der Bundesregierung steht, und das ist meine, die SPD. Die CDU ist gespalten, und die CSU fährt einen völlig anderen Kurs.

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Die Regierung hat Angst vor einer Neiddebatte, wenn zu große Summen pro Flüchtling gezahlt werden.

Schulz Wenn die Menschen nicht in einer Weise belastet werden, die sie als ungerecht empfinden, dann sind sie sehr solidarisch. Das erleben wir ja derzeit. Wenn aber Kinder dauerhaft keinen Schulsport mehr machen können, weil die Turnhalle belegt ist, oder Eltern keinen Kita-Platz bekommen, weil der für andere reserviert ist, dann stoßen Sie auf Ablehnung. Daher hängt die Akzeptanz der Flüchtlinge in hohem Maß von der finanziellen und organisatorischen Ausstattung für Städte und Gemeinden ab.

Brauchen wir also Steuererhöhungen in Deutschland?

Schulz. Nein. Geld ist genug da. Es gibt Rekordsteuereinnahmen.

Die Bewältigung der Flüchtlingskrise in Deutschland hängt stark auch von einer europäischen Einigung auf Verteilquoten ab. Gibt es dafür noch eine Chance?

Schulz Wir haben einen Beschluss zur Verteilung von 160.000 Flüchtlingen gefasst. Das ist ein Anfang und eine gute und gerechte Grundlage, auf der wir nach der Leistungsfähigkeit der Staaten ein verbindliches Verteilsystem beschließen können, das auch gebraucht wird. Die geplanten Hotspots an den Außengrenzen machen keinen Sinn, wenn man die Leute nicht auch verteilt.

Gibt es denn den Willen in der EU, zum Gemeinschaftsdenken in der Flüchtlingsfrage zurückzukehren?

Schulz Wir bereiten die nächste EU-Haushaltsperiode vor. Viele der Mitgliedstaaten, die sich nicht an der Flüchtlingsverteilung beteiligen, profitieren vom EU-Haushalt. Derzeit tragen einige wenige Länder die Hauptlast in der Flüchtlingskrise. Bei neuen Herausforderungen wird man auch über neue Prioritäten diskutieren müssen. Ich habe den Eindruck, dass sich manches Land nicht beteiligt, weil es die finanziellen Lasten fürchtet oder sie objektiv nicht bewältigen kann.

Ist das Dublin-Abkommen nur noch Makulatur?

Schulz Dublin war für die Asylregelung politisch Verfolgter geschaffen worden. Für einen so hohen Flüchtlingszustrom ist es nicht gemacht. Es sammelt sich alles unter dem Dach der politisch Verfolgten, weil wir für die temporär Schutzsuchenden und für Einwanderungswillige keine ausreichenden Rechtsnormen haben. Wir benötigen in Europa unbedingt einheitliche Regeln, die für alle drei Gruppen Wege öffnen, nach Europa zu kommen, nämlich für politisch Verfolgte, für Menschen, die einwandern wollen, und für solche, die temporär Schutz suchen.

Und dann gehen alle nach Deutschland, Schweden oder Frankreich?

Schulz Nein, ein solches einheitliches europäisches Einwanderungsrecht würde auch festlegen, in welche Länder Menschen gehen können. Daran müssten sich sowohl die Flüchtlinge als auch andere Einwanderungswillige halten — dass sie dorthin gehen, wo es Kapazitäten gibt.

Sind Transitzonen nach EU-Recht möglich?

Schulz Ich halte Transitzonen nicht für sinnvoll. Sie verschleiern doch nur das Problem, dass wir viel zu lange Bearbeitungszeiten für Asylanträge in Deutschland haben. Seit zwei Jahren weist Sigmar Gabriel in jeder Pressekonferenz darauf hin, dass wir mehr Personal für das Bundesamt für Flüchtlinge und mehr Wohnraum benötigen.

Er ist immerhin Minister und kann das beeinflussen.

Schulz Deshalb fordern wir das ja. Warum es noch nicht gelungen ist, müssen Sie die fragen, die das seit geraumer Zeit ignoriert haben.

Wir haben vermehrt rechtsextremistische Gewalttaten in Deutschland und steigende Umfragewerte für die AfD. Bekommen wir österreichische Verhältnisse?

Schulz Das glaube ich nicht. So stark sind die nicht, aber sie sind gefährlich. Rein numerisch ist die Anzahl von Rechtsextremen in Deutschland geringer als in anderen Ländern. Aber die Gewaltbereitschaft und die Brutalität sind deutlich höher. In Deutschland gibt es ohne Zweifel rechtsextreme Gewalt. Und es gibt eine bis weit in die Mitte hinein reichende Angstrhetorik, die den Rechtsextremisten Mut macht.

Sie sind schon als Kanzlerkandidat, Außenminister und Berliner Bürgermeister gehandelt worden. Was wollen Sie denn noch werden?

Schulz Ich habe ein Amt, das ich gerne ausfülle. Dass ich auch für andere Ämter gehandelt werde, ehrt mich.

Jan Drebes, Birgit Marschall, Gregor Mayntz und Eva Quadbeck führten das Gespräch.

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(qua)
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