Streit um die Flüchtlingspolitik Europäer, vortreten!

Meinung | Düsseldorf · Seit Monaten feilschen die EU-Staaten um die Verteilung von Flüchtlingen. Tieferer Grund für dieses Geschacher ist eine Krise des europäischen Selbstverständnisses. Jetzt ist Mut gefragt – auch zu unpopulären Schritten.

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Flüchtlinge – erschütternde Bilder aus aller Welt

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Foto: afp, MM

Seit Monaten feilschen die EU-Staaten um die Verteilung von Flüchtlingen. Tieferer Grund für dieses Geschacher ist eine Krise des europäischen Selbstverständnisses. Jetzt ist Mut gefragt — auch zu unpopulären Schritten.

Selbst wenn sich die Innenminister der EU heute darauf einigen sollten, wie die 60.000 zusätzlichen Flüchtlinge aus Italien, Griechenland und den Flüchtlingslagern im Nahen Osten zu verteilen sind: Mit Ruhm bekleckert hat sich Europa wieder einmal nicht. Nicht genug, dass Tausende vor den Toren Europas ertrinken, nicht genug, dass eine feste Quote für die Verteilung der Armseligen bereits gescheitert ist — seit Monaten wird nun auch noch um "freiwillige" Aufnahmezahlen geschachert. Staaten wie Tschechien, die Slowakei, Kroatien, Spanien, Portugal und die Balten tun sich dabei unrühmlich hervor, die ohnehin kaum Flüchtlinge aufnehmen. Während Deutschland Anfang 2015 mehr als 900 Asylanträge pro Million Einwohner zählte, Schweden gar fast 1200, waren es in Kroatien und der Slowakei gerade mal neun, in Litauen 15 und in Rumänien 17. Fünf Staaten (Deutschland, Ungarn, Italien, Frankreich, Schweden) tragen 80 Prozent der Asylanträge — da tut Umverteilung not.

Hinter dem beschämenden Gezerre stehen nicht nur vermeintliche oder tatsächliche materielle Interessen der Ost- und Südeuropäer, die die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit erreicht sehen. Die Flüchtlingsdebatte offenbart eine europäische Mentalitätskrise. Neben der Finanzverfassung steckt auch Europas Selbstverständnis in der tiefsten Krise seit einem halben Jahrhundert. Solidarität ist zur Phrase verkommen; in der EU wird es Mode, sich aus dem Europakuchen das herauszupicken, was einem gerade schmeckt, und den Rest liegenzulassen. Die Briten, ein schlechtes Vorbild, praktizieren das seit Jahrzehnten, und sie sind leidlich erfolgreich damit.

Was Europa braucht, ist neuer Mut. Gerade jetzt, da man knapp am Grexit vorbeigeschrammt ist, wäre die Zeit, über beherzte neue Schritte der Einigung nachzudenken. Endlich eine gemeinsame Sicherheitspolitik, die den Namen verdient. Endlich ein echter europäischer Außenminister. Endlich weitere Schritte hin zu einer europäischen Armee. Für all das müssten die Mitgliedstaaten weitere Souveränitätsrechte abgeben. Das mag unpopulär sein, aber das sind europäische Pioniertaten meistens. Wo sind die Männer und Frauen, die dazu den Mut haben? Europäer, vortreten!

Heute also erst einmal die Flüchtlinge. Eins übrigens — Quote hin, Freiwilligkeit her — wird nach jedem Ministerbeschluss so bleiben: dass Deutschland die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Und das ist auch gut so. Wir können uns das leisten. Ohne Probleme. Wer etwas anderes behauptet, der hat vom christlichen Abendland nicht viel verstanden.

(fvo)
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