Gastbeitrag von Jürgen Rüttgers Europa braucht mehr Demokratie

Düsseldorf · Der frühere Ministerpräsident Jürgen Rüttgers geht hart mit der Regierung Tsipras ins Gericht: Sie habe die europäische Vertrauensbasis zerstört. Langfristig helfen seiner Ansicht nach nur Fundamental-Reformen. Ein Gastbeitrag.

 Jürgen Rüttgers (64) schrieb einen Gastbeitrag für unsere Redaktion.

Jürgen Rüttgers (64) schrieb einen Gastbeitrag für unsere Redaktion.

Foto: AP

Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone haben sich geeinigt. In einer zähen Nachtsitzung musste der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras all die harten Einschnitte und Sparauflagen akzeptieren, die er monatelang erbittert und am Ende sogar mit einem Referendum bekämpft hatte. Und auch wenn die nationalen Parlamente der nun gefundenen Lösung noch zustimmen müssen - eines scheint bereits jetzt sicher: Gräben, die wir seit Jahrzehnten zugeschüttet wähnten, sind wieder aufgerissen; Bürger aus den unterschiedlichsten Staaten Europas sprechen nicht mehr partnerschaftlich miteinander, sondern nur noch übereinander - meist unfreundlich, oft feindlich, manchmal sogar hasserfüllt.

Viele fragen sich, wie es dazu kommen konnte. Man wird feststellen müssen, dass die Hauptverantwortung für die Misere in Athen liegt. Die griechische Regierung hat alle Vorschläge der Euro-Gruppe abgelehnt. Die Mitglieder der Euro-Gruppe fühlen sich belogen und betrogen. Keiner der Beteiligten kann sagen, man sei einfach in die Krise hineingeschlittert.

Angela Merkel hatte es vorhergesagt: "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa." Damit wollte sie sagen, dass Europa verloren sei, wenn es die Fähigkeit zum Kompromiss verliert. Anders wurde in Griechenland diskutiert. Beim Referendum gehe es um "Würde oder Demütigung", hatte Tsipras seinem Volk gesagt. Also ging es gar nicht darum, Griechenland aus der Schuldenkrise zu helfen. Die Syriza-Regierung wollte gar kein neues Finanz-Programm. Stattdessen warf sie den Europäern vor, das Land in den Schuldensumpf getrieben zu haben. "Der Kampf, der sich vor unseren Augen abspielt, ist der Kampf um die europäische ökonomische und politische Leitkultur", schrieb der in London lehrende Philosoph Slavoj Zizek und fügte hinzu: "Es ist die Zukunft Europas, die auf dem Spiel steht."

Der damalige griechische Finanzminister Giannis Varoufakis schrieb Ähnliches im britischen "Guardian": "Ein griechischer Austritt aus der Euro-Zone würde bald zu einem Zerbrechen des europäischen Kapitalismus führen. Die Folge wäre eine ernsthaft rezessionsgefährdete Überschussregion östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während das restliche Europa in einer brutalen Stagflation versänke." Es geht also um den Wiederaufstieg der marxistischen Linken, die nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989/90 ein kümmerliches Dasein fristen. Jetzt wird auch der Satz von Slavoj Zizek verständlich: "Ist das linke Europa jetzt also gescheitert? Nein, Europa ist gescheitert."

Wer das nicht versteht, wird auch jetzt keine Lösung finden. Zwar weiß jeder, dass Griechenland auf absehbare Zeit seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Dennoch versucht Europa solidarisch zu helfen. Jedem war auch klar, dass weitere Hilfe in Zukunft notwendig ist, humanitäre Hilfe und Aufbauhilfen. Das wurde den Wählern verschwiegen.

Wahr ist auch, dass Europa große Fehler gemacht hat. Es war falsch, dass unter der Regierung Schröder Griechenland in den Kreis der Euro-Länder aufgenommen wurde. Schon damals war klar, dass die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen. Man konnte sich auch nicht darauf verlassen, dass die Syriza-Regierung die gewohnten Spielregeln akzeptieren würde.

Griechenland braucht nicht nur Kontrollen, sondern auch Wachstum
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"Ein schwarzes Kapitel in der europäischen Geschichte"

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Als die ideologischen und populistischen Proteste immer stärker wurden, war auch klar, dass mit eingefahrener europäischer Bürokratie und ohne demokratische Legitimation rigorose Sparmaßnahmen nicht umgesetzt werden könnten. Nicht nur nicht in Griechenland. Der Versuch, sich auf pragmatische und finanztechnische Argumente zur Begründung des Notwendigen zu beschränken, konnte nicht gutgehen. Nicht mehr von Europa als größtem Friedenswerk der Geschichte zu reden, war ebenso ein Kardinalfehler.

Die Neuregelung der Finanzmärkte ist bis heute nicht abgeschlossen, der europäische Binnenmarkt nicht vollendet. Die Unfähigkeit, sich auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik angesichts von Tausenden Toten zu einigen, bleibt ein Trauerspiel.

Deutschland hat noch nicht gelernt, mit der ihm zugewachsenen Macht verantwortlich umzugehen. Die kleineren Mitgliedstaaten müssen immer wieder in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Reden, wonach Deutschland mehr Verantwortung übernehmen müsse, reichen alleine nicht aus. Verantwortung übernehmen heißt auch, seinen Partnern helfen.

Alexis Tsipras erntet viel Kritik im EU-Parlament
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Tsipras erntet viel Kritik im EU-Parlament

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Während im Rahmen der Europawahl 2014 die demokratische Legitimation von Europaparlament und Kommission durch das europäische Volk gestärkt wurde, steht dies beim Europäischen Rat noch aus. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verfügt heute über die gleiche demokratische Legitimation in Europa wie Bundeskanzlerin Merkel in Deutschland. Die Mitglieder des Europäischen Rates sind aber nur auf Ebene der Mitgliedsländer legitimiert. Ihnen fehlt die demokratische Legitimation auf europäischer Ebene. Insofern muss es eine Reform des Europäischen Rates geben. Er kann nicht gleichzeitig Gesetzgeber und Regierung sein. Er ist nicht die Vertretung des Souveräns. Der Souverän ist das europäische Volk, der Rat eine zweite Kammer mit besonderen Rechten. Seine Entscheidungen müssen auch vor dem Europäischen Gerichtshof überprüft werden können.

Solche Fehler und Defizite haben das Vertrauen in die EU beschädigt. Es ist höchste Zeit, mit institutionellen Reformen zu beginnen. Spätestens im kommenden Jahr steht Europa vor einer weiteren Herausforderung wie in Griechenland. Dann geht es um den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union. Auch hier droht wieder Handeln ohne demokratische Legitimation. Das kann zu neuen Krisen führen. Richtig entscheiden kann man nur auf der Grundlage von Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung.

(RP)
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