Eine Analyse Fünf Thesen zur Zukunft Europas

Oslo · Dass die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, darf nur ein Ansporn sein. Denn tatsächlich befindet sich die Union in einer tiefgreifenden Krise. Wir stellen dar, an welchen Stellen die Gemeinschaft besser werden muss.

Die EU bekommt den Friedensnobelpreis
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Die EU bekommt in der tiefsten Krise seit ihrer Gründung den Friedensnobelpreis. Die Auszeichnung würdigt die historische Leistung bei der Einigung des Kontinents, soll aber vor allem Ansporn und Verpflichtung sein, das Erreichte nicht aufs Spiel zu setzen und die Einigung zu vertiefen. Fünf Thesen, wie die Europäische Union besser werden kann.

These 1: Mr. Europa muss her — mehr Führung trotz Vielfalt

Die Nachricht aus Oslo brachte die EU in Verlegenheit: Wer sollte die Auszeichnung entgegennehmen? Der Kommissionschef als Repräsentant der Brüsseler Exekutive, der Ratspräsident als Vertreter der EU-Staaten oder Europas oberster Volksvertreter Martin Schulz? Nach langem Gezerre kamen alle drei. Kleinliches Kompetenzgerangel beim Spitzenpersonal schwächt die Gemeinschaft als großes Ganzes. Ein vom Volk direkt gewählter Präsident, ein Mr. Europa, muss her. Der würde nicht nur als Identifikationsfigur für die Bürger dienen. Europas internationale Partner hätten dann auch endlich eine einheitliche Telefonnummer für die EU, die einst schon Henry Kissinger forderte.

These 2: Ökonomischer Riese, politischer Zwerg — mehr Einheit im Außenauftritt

Ökonomisch ist Europa ein Riese, politisch oft ein Zwerg: Die jüngste Abstimmung der Vereinten Nationen über die Anerkennung Palästinas hat deutlich gezeigt, dass die EU außenpolitisch zu selten mit einer Stimme spricht. Auch im Libyen-Krieg glänzte die Gemeinschaft durch Uneinigkeit. Die EU-Außenpolitik wird von nationalen Interessen bestimmt. Quasi-Außenministerin Catherine Ashton ist eine Marionette an den Fäden der Hauptstädte. Deshalb müssten die Nationalstaaten Macht abgeben. Anstelle einzelner Staaten bekäme dann Europa einen Sitz in internationalen Organisationen wie dem UN-Sicherheitsrat oder dem Internationalen Währungsfonds.

These 3: Mit Kerneuropa aus der Krise — in der Spaltung liegt die Kraft

Mehr Europa muss sein, lautet eine der Lehren aus der Schuldenkrise. Eine gemeinsame Währung funktioniert nicht, wenn die für deren Stabilität wichtigen Entscheidungen national getroffen werden. Beim Gipfeltreffen Ende der Woche wollen die Staats- und Regierungschefs diese Vertiefung beschließen. Die Länder der Währungsunion machen sich damit auf den Weg in Richtung politische Union. Die EU-Kommission wird — zumindest in der Wirtschaftspolitik — immer mehr zu einer europäischen Regierung ausgebaut. Nicht-Euro-Staaten wie Großbritannien bleiben dabei außen vor. Klar ist: Die weitere Einigung wird nicht mehr im Gleichschritt aller 27 EU-Staaten vollzogen. Die EU-Verträge erlauben das Vorpreschen einer "Avantgarde" in bestimmten Politikbereichen. Europa muss diese Möglichkeit nutzen, um voranzuschreiten. Diese "Spaltung" kann die Gemeinschaft am Ende sogar stärken, solange der "Integrations-Kern" offen für Nachzügler bleibt. Denn sie erlaubt Großbritannien Mitglied der EU zu bleiben — wenn auch in einem loseren Verbund, der sich vor allem auf die wirtschaftliche Integration beschränkt. Das ist besser als ein Abschied Großbritanniens aus der Gemeinschaft. Denn ohne London wäre die EU auf der Weltbühne stark geschwächt.

These 4: Weniger ist mehr — Selbstbeschränkung und neue Prioritäten

Brüssel wird das Image des Bürokratie-Monsters nicht los. Kein Wunder: Denn bis ins Klein-Klein — Stichwort "Glühbirnenverbot" — mischt sich die EU in den Alltag ihrer Bürger ein. Eine Beschränkung aufs Wesentliche tut not. Nur da, wo europäische Harmonisierung Mehrwert bringt, sollte Brüssel handeln. Hinzu kommt: Europa muss seine Ausgaben endlich den politischen Prioritäten anpassen. Kommissionschef José Manuel Barroso predigt Wachstum und Innovation. Doch Brüssel investiert mehr in Kühe als in kluge Forscher-Köpfe. Knapp 40 Prozent der Brüsseler Gesamtausgaben sollen auch künftig in die Landwirtschaft fließen, obwohl dieser Sektor nur noch 1,5 Prozent zum Bruttonationaleinkommen der EU beiträgt. Mit solch einem Budget von gestern kann die EU nicht im globalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts mithalten.

These 5: Eigene Werte wahren — Grenzen fürs Grenzenlose

Die Union ist zu schnell gewachsen. Das politische Ziel, die Teilung des Kontinents in Ost und West zu überwinden, sollte nicht durch übermäßige Strenge bei der Beurteilung der Beitrittsreife aufgehalten werden. Also entschied sich die Union, Länder zu integrieren, die noch nicht EU-reif waren — wie etwa Rumänien und Bulgarien. Das rächt sich nun. Beide Staaten hinken bei der Korruptions- und Kriminalitätsbekämpfung weiter hinterher. Wenn die EU ihre Glaubwürdigkeit als Werte-und Rechtsgemeinschaft nicht verlieren will, muss sie ihre eigenen Prinzipien ernst nehmen und darf Beitritte nicht auf Rabatt vergeben. Außerdem muss die EU ihre Grenzen erkennen. Sollte die Türkei mit ihren rund 75 Millionen Bewohnern Mitglied werden, würde dies die EU institutionell wie finanziell überfordern — und endgültig zum gelähmten Riesen machen.

(RP/csi/das/nbe)
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