Krise Europas Schicksalsjahr

Brüssel · Die immensen Zerreißkräfte in Europa sind so stark wie nie. Krisenmanagement allein wird die EU nicht retten können.

Griechenlands Euro-Frust in Form von Graffiti
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Brüssel, an einem Januarmorgen. Das Jahr ist gerade mal zwei Wochen alt. Frans Timmermans, Vize-Präsident der EU-Kommission, sitzt in seinem Büro. Im Gebäude herrscht Alarmstufe Gelb. Am Vorabend hat die belgische Polizei in letzter Minute Anschläge von Islamisten vereitelt. Aber das ist nicht Timmermans‘ einzige Sorge. In Athen hat der Linkspolitiker Alexis Tsipras, der haushohe Favorit bei den bevorstehenden Wahlen, soeben angekündigt, er wolle die Schulden Griechenlands nicht zurückzahlen. In der Ost-Ukraine toben blutige Kämpfe. Terror, Schuldenkrise, Krieg: Europa ist aus den Fugen geraten, und Timmermans fragt sich, wie man das alles wieder zusammenfügen kann. Er sei da zwar ganz zuversichtlich, sagt der Niederländer. "Aber ich bin auch Realist." Eine Demontage der EU sei ebenfalls nicht auszuschließen. Es hört sich an, als schätze er die Chancen auf etwa fifty-fifty.

Das war vor fünf Monaten. Die Lage ist seither, freundlich formuliert, nicht übersichtlicher geworden. 2015 könnte ein Schicksalsjahr für Europa werden. Ein Jahr, in dem entscheidende Weichen gestellt werden für die EU. In dem Vorentscheidungen darüber fallen, ob dieses mächtige Gebilde eines Tages vielleicht doch einfach wieder zerfällt. Gleich mehrere drängende Herausforderungen von existenzieller Tragweite sind zu meistern. Wie lassen sich die Griechenland-Krise entschärfen und die Euro-Zone dauerhaft stabilisieren? Kann ein EU-Austritt der Briten vermieden werden? Wie kann man Russlands blutige Expansion an der EU-Ostgrenze stoppen? Wie lässt sich eine solidarische und rationale Migrationspolitik organisieren?

Die EU steht für viele Jahrzehnte Frieden und Wohlstand in Europa, für offene Grenzen und andere Annehmlichkeiten, an die wir uns schnell gewöhnt haben. Trotzdem scheint ein Scheitern des Projekts nicht länger ausgeschlossen. Das bedeutet eine brutale Ernüchterung für die Schönwetter-Europäer alter Schule. Jahrzehntelang war Europapolitik eine bequeme Veranstaltung. Natürlich wurde auch früher schon heftig gestritten, um Subventionen und um Posten. Aber immer war genug Geld da, um Widerstände zu brechen oder Meinungsunterschiede zuzukleistern. Scheinbar unaufhaltsam wurde die EU immer weiter zusammengeschraubt, "zu einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker", wie es in der Präambel der Römischen Verträge von 1957 voller Pathos heißt. Lange ging das gut. Die Eliten machten ihr Ding, und die Bürger ließen es geschehen.

Das hat sich gründlich geändert. Die von der Schuldenkrise verursachten wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen haben das Ansehen der EU in den Augen vieler Europäer ramponiert. Vor allem junge Menschen in den Krisenstaaten verbinden mit dem Versprechen der europäischen Einigung heute vor allem ihren eigenen Absturz in die Perspektivlosigkeit. Und in prosperierenden Ländern wie Deutschland wollen die Wähler nicht einsehen, warum sie mit ihren Steuern für die horrenden Fehler anderer Regierungen bezahlen sollen. Umfragen zeigen: Selbst in Kernländern der EU wie Deutschland, Frankreich oder Italien wollen die Bürger heute lieber weniger statt mehr Europa. Der historischen Einigung des Kontinents geht ausgerechnet in ihrer Keimzelle die politische Legitimation abhanden. Euroskepsis macht sich breit, manchmal schlägt sie sogar um in aggressives Ressentiment. Noch nie hatten antieuropäische Populisten so viel Rückenwind wie heute.

Worterklärungen in Griechenlands Schuldenkrise
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Foto: dapd, Michael Gottschalk

Sand ist freilich schon länger im Getriebe. Schon bevor der Euro gnadenlos die inneren wirtschaftlichen und politischen Widersprüche der europäischen Konstruktion aufdeckte, scheiterte eine gemeinsame Verfassung. In Frankreich und den Niederlanden, dort, wo das Volk direkt abstimmen durfte, sagten die Bürger 2005 Nein zu einem europäischen Grundgesetz. Im EU-Apparat reagierten viele fassungslos. Auch für Frans Timmermans, damals Abgeordneter im niederländischen Parlament und glühender Europäer, brach eine Welt zusammen. "Ich war stinksauer auf meine Landsleute", erinnert er sich, "ich dachte, die haben es einfach nicht begriffen". Wochenlang habe er sich mit dem Gedanken getragen, alles hinzuwerfen, Schluss zu machen mit der Politik. "Aber dann habe ich es eingesehen: ich selbst war es, der nichts begriffen hatte".

Timmermans zog eine harte Konsequenz aus dem Verfassungsdesaster: Mehr europäische Integration in Form von Übertragung nationaler Souveränitätsrechte nach Brüssel steht für ihn nicht länger zur Debatte. Wenn der "Zusammenschluss der europäischen Völker" weiter vertieft wird, dann nur über den Weg der verstärkten Kooperation zwischen den Nationalstaaten. Das klingt nach dem "Europa der Vaterländer", von dem einst Charles de Gaulle sprach. Es ist vor allem das Eingeständnis, dass mehr nicht machbar scheint.

So sang und klanglos mögen sich andere von der Vision des europäischen Bundessstaats nicht verabschieden. "Wir müssen die Nationalstaaten überwinden", beharrt Ulrike Guérot. Die Politologin ist überzeugt, dass die meisten Menschen sich längst gelöst haben von der Vorstellung, einzig und allein nur Deutsche, Franzosen oder Italiener zu sein. Was zähle, sei die "Heimat", die Region, die Identität stifte. "Das sind Einheiten von rund zehn Millionen Menschen, die wirklich funktionieren", sagt Guérot. Wer sie reden hört, in langen, atemlosen Sätzen, der fühlt sich erinnert an die jungen Menschen, die nach dem Krieg begeistert Schlagbäume zersägten, um ein Vereinigtes Europa zu fordern. Aber ein Flickenteppich der Regionen unter einem europäischen Dach - ist das die richtige Antwort auf die Globalisierung?

Es ist der 9. Mai, der Europatag, auch wenn das kaum einer weiß. Ulrike Guérot nimmt an einer Diskussionsveranstaltung teil. Sie hat einen Stapel Postkarten dabei, auf denen steht ihr Lieblingsslogan: "Europe under construction". Europa als Baustelle. Die Frage ist nur: Soll das Haus weiter ausgebaut werden, oder sollte man nicht besser ein paar Etagen abreißen? Die Frage stellt sich mit neuer Dringlichkeit, seit der britische Premier David Cameron mit Blick auf das EU-Referendum 2016 auf die Rückabwicklung von Teilbereichen der europäischen Politik pocht. Für viele Briten war die EU immer nur ein pragmatisches Zweckbündnis, mehr nicht. Ob sie am Ende einer Kosten-Nutzen-Kalkulation für einen Austritt stimmen würden, weiß keiner. Aber wenn es so kommt, die Folgen für Europa wären mit Sicherheit einschneidend.

Es ist einfach zu beschreiben, woran die EU im Jahr 2015 krankt: Es gibt ein Demokratiedefizit und immer noch zu viel Normierungsbürokratie, es herrscht eine skandalöse wirtschaftliche und soziale Unwucht zwischen den Mitgliedsländern. Nationaler Egoismus lähmt die dringend notwendige Zusammenarbeit beim Kampf gegen Terror und illegale Einwanderung, aber auch in der Außen- und Sicherheitspolitik. Camerons EU-Kritik könnte also durchaus heilsam sei, wenn man sie in Reformen ummünzte. Stattdessen herrscht Ratlosigkeit. Es fällt leicht, die Fehler der Vergangenheit zu beschreiben, all die halbherzigen Beschlüsse, gebrochenen Regeln und verpassten Gelegenheiten. Weit schwerer ist es, die Frage zu beantworten, wie es weitergehen soll.

Am größten ist der Handlungsdruck in der Euro-Zone. Deren 19 Mitglieder sind möglicherweise zu Schritten gezwungen, zu der die große Union der 28 nicht in der Lage wäre. Egal, ob Griechenland nun im Euro bleibt oder nicht: Wenn die Währungsunion überleben soll, muss sie ganz neu gebaut werden, mit einer gemeinsamen Wirtschafts- und Steuerpolitik, irgendwann sogar mit einem gemeinsamen Finanzminister. In Berlin und Paris gewöhnt man sich langsam an den Gedanken, so wie ein Badegast, der vor dem Sprung zögernd am Beckenrand steht und erst einmal nur den großen Zeh ins kalte Wasser steckt. Denn dieser Schritt würde faktisch das Ende des souveränen Staats im traditionellen Sinne bedeuten. Aber er würde auch bedeuten, dass Deutschland künftig für die schwächeren Euro-Länder zahlen muss. Will man das?

Richtig ist: Für diese Flucht nach vorn, für noch mehr Integration, wenigstens für ein "Kerneuropa" rund um den Euro, fehlt der politische Rückhalt, und zwar sowohl bei den Bürgern als bei den meisten EU-Regierungen. Ändern könnte sich das nur, wenn Europas führende Politiker den Mut aufbringen, ihren Wählern die harte Wahrheit zu sagen: Es gibt keine bequeme Alternative, kein Hintertürchen aus dem Schlamassel. Der Rückweg in den idyllischen Nationalstaat, der sich wieder hinter Schlagbäumen gegen die raue Welt da draußen verschanzt, ist in Wirklichkeit verbaut.

Natürlich kann sich Europas Generation Merkel auch noch ein paar Jahre weiter mit Krisenmanagement durchwurschteln. Aber das würde es nicht leichter machen, endlich ein Europa zu bauen, das funktioniert. Die Sympathiewerte der EU sind im Keller, und viele Menschen würden sich wohl für eine Beendigung des Experiments aussprechen, wenn sie sich nicht vor den unkalkulierbaren Folgen fürchteten, die ein Ausstieg aus dem Euro oder ein Austritt aus der EU hätte. Aber ein Europa, gebaut auf der Angst vor dem Ungewissen, das ist gewiss die Schlechteste aller Lösungen.

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