Europa nach dem Brexit Das Zeitalter der Vernunft ist vorbei

London · Das Brexit-Votum der Briten zeigt: Emotion und Protest triumphieren, die Ratio ist gerade nicht gefragt. Deshalb muss die Politik ihren Stil ändern. Europa hat aber dafür nicht das Personal, das es verdient.

Brexit: Reaktionen zur Abstimmung
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Bestürzung und Jubel nach dem Brexit

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Der Morgen danach war die Zeit der Gefühle. "Heartbroken" war eine der häufiger gehörten Vokabeln bei den Brexit-Gegnern: ein gebrochenes Herz. Von "Ärger und Frustration" sprach die britische Grüne Caroline Lucas, von einer "Angst wie nie zuvor" Sängerin Ellie Goulding. Brexit-Bannerträger Boris Johnson wurde ausgebuht, als er sein Londoner Wohnhaus verließ. Das tat aber der guten Stimmung der "Brexiteers" keinen Abbruch: Sie habe eine "lange, emotionale Nacht" gehabt, twitterte Schauspielerin Liz Hurley zweideutig. Nigel Farage, Chef der rechtspopulistischen Ukip, sagte, "normale, anständige Leute" hätten gegen "das Establishment" gesiegt. "Großartige Sache", jubelte US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump aus Schottland. AfD-Vize Beatrix von Storch tat kund, sie habe vor Freude geweint.

Emotionen, wohin man schaut. Kein Wunder - soeben hatten die Briten Geschichte gemacht. Wer könnte da nüchtern bleiben? Die Entscheidung für den Brexit aber ist nicht nur in ihren Wirkungen ein Wendepunkt, sondern auch in ihrem Zustandekommen: Das britische EU-Referendum markiert das Ende des Zeitalters der Vernunft in der Europapolitik.

Das Kalkül "Emotion" ist aufgegangen

Das Kalkül der Brexit-Kampagnenmacher ist aufgegangen, und zwar auf spektakuläre Weise. Sie hatten ganz auf Emotion gesetzt. "Macht den 23. Juni zum Unabhängigkeitstag", hatte Farage immer wieder gesagt und gefordert, die Briten müssten ihr "Land zurückbekommen". Selbstverständlich ist Großbritannien auch als EU-Mitglied ein selbstständiger Staat, aber das interessiert in dieser Argumentation nicht. Johnson verglich die EU mit Hitler und Napoleon, die ebenfalls versucht hätten, einen "Superstaat" zu schaffen.

Trotzdem haben ausgerechnet die "Brexiteers" dem gegnerischen Lager eine Angstkampagne unterstellt. Nichts ist falscher. Die EU-Befürworter, etwa Premier David Cameron oder Notenbankchef Mark Carney, hatten zwar vor einem Brexit gewarnt. Sie hatten damit aber nur versucht, das Unvorstellbare in Ziffern zu pressen, irgendeine Empirie heranzuziehen für ein Ereignis ohne Präzedenz. Anders gesagt: Sie hatten versucht, Politik zu machen wie gewohnt. Indem sie Entscheidungen mit rationalen Argumenten zu beeinflussen versuchten.

Ratio ist nicht gefragt

Der Appell an den Kopf ist gescheitert. Der Bauch ist das politische Körperteil der Stunde. Die Populisten haben sich das zuzuschreiben. Emotion und Protest machen Politik, die Ratio ist gerade nicht gefragt. Alles, was nach Technokratismus riecht, also der Herrschaft des vernunftgesteuerten Verfahrens, ist verhasst. Deswegen gelten die alten Gewissheiten nicht mehr. Es gibt kein Zurück in der Integration? Am 23. Juni ist der Glaube, Europa sei eine Einbahnstraße, zerbrochen.

In der Europapolitik zeigt sich jetzt, was sich in der Weltpolitik schon vor 25 Jahren gezeigt hat: Es gibt kein Ende der Geschichte. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte man das mal kurz glauben können. Kriege, Massenmigration und Terrorismus haben den Glauben schnell als Wunschtraum erwiesen. Dass eine politische Union die Krönung aller europäischen Ambitionen wäre, weil Europa nur eine Zukunft hat, wenn es einig ist - so argumentiert heute öffentlich nur noch, wer keine Angst hat, ausgelacht zu werden.

Europa hat sich in den vergangenen Jahrzehnten aus einer Vision in ein rationalistisches Verfahren verwandelt. Europa ist eine Verwaltungstechnik geworden, mit blassen Prokuristen an der Spitze. Ohne komplizierte Verfahren geht es nicht, aber die Vermittlung des Ganzen ist auf der Strecke geblieben. Das Europäische Parlament als Ort des energischen Diskurses hat diese Lücke (bisher) nicht schließen können.

Deswegen haben die Populisten leichtes Spiel. Sie reduzieren Europa auf seine technisch-rationalistische Seite: Ölkännchen, Glühbirne, Flüchtlinge. Rechtsaußen Nigel Farage ist in Wahrheit ein Jünger der Marxisten Max Horkheimer und Theodor Adorno: "Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst." Gegen diese Herrschaft, diese "Gefängniswärter" (so der britische "Telegraph"), lässt sich nur zu leicht ein "Unabhängigkeitstag" inszenieren.

Die Politik Europas muss einen anderen Stil finden

All das heißt aber, dass die Politik Europas sich nicht nur in ihren Inhalten ändern muss. Sie muss auch zu einem anderen Stil finden. Am 23. Juni ist in erster Linie David Cameron gescheitert - er hat vergeblich versucht, die Populisten mit ihren Waffen zu schlagen. Die politischen Urviecher Boris Johnson und Nigel Farage haben gesiegt. François Hollande, auch nicht eben ein Ausbund an Strahlkraft, droht in Frankreich ein ähnliches Debakel zu erleiden.

Und Angela Merkel? Ihre exzessive Nüchternheit mag sie noch einmal durch eine Bundestagswahl tragen. Das europapolitische Rezept der Zukunft ist sie nicht. Gefragt ist jetzt eine uralte politische Qualifikation: Charisma. Dringend nötig sind Politiker, die für Europa brennen und kämpfen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker fällt nicht (mehr) in diese Kategorie, der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn erst recht nicht. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz schon. Wolfgang Schäuble auch und der Belgier Guy Verhofstadt. Aber dann wird's schon dünn. Die europäische Sache hat nicht das Personal, das sie verdient.

Vom Zeitalter der Vernunft, "The Age of Reason" auf Englisch, ist es akustisch nur ein kleiner Schritt zur "Edge of Reason". Der zweite Film der Komödienreihe über die trampelige Londonerin Bridget Jones heißt so; der deutsche Verleih machte daraus "Am Rande des Wahnsinns". So weit sind wir noch nicht. Aber wir sind tatsächlich am Ende eines Weges angekommen, auf dem das Vertrauen auf die Vernunft ein guter politischer Wegweiser zu sein schien. So kann man sich täuschen.

(fvo)
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