Rechte Hand von EU-Kommissionschef Juncker Martin Selmayr — Kletterer in Krisen-Aktenbergen

Brüssel · Zum Europatag stellt sich die Frage, wie viel die Brüsseler Krisenmanager noch spüren vom europäischen Geist. Martin Selmayr, die rechte Hand von EU-Kommissionschef Juncker, erzählt dann von seinem Großvater.

 Martin Selmayr ist der Kabinettschef von Jean-Claude Juncker.

Martin Selmayr ist der Kabinettschef von Jean-Claude Juncker.

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Jede Krise hat ihren eigenen Stapel. Säuberlich getrennt liegen elf Aktenberge auf dem Schreibtisch mit den Problemen und Themen, die an diesem Tag angepackt werden müssen. Griechenland ist ebenso dabei wie die Ukraine, die Flüchtlingsfrage, der digitale Markt oder die Zukunft des Euro. Die Stapel sind Martin Selmayrs Methode, um irgendwie den Überblick zu behalten in diesem Europa, das vor lauter Schwierigkeiten sich selbst zu verlieren droht. Der Deutsche ist als Kabinettschef rechte Hand von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. In seinem Büro laufen die Fäden zusammen.

Der Arbeitstag hat wie immer in aller Herrgottsfrühe angefangen. Um sieben Uhr hat er die ersten Krisentelefonate geführt. Es ist um Griechenland gegangen, Selmayr hat Vertretern aus sechs Hauptstädten vor der wichtigen Euro-Finanzministersitzung am Montag über den letzten Stand der Verhandlungen berichtet. Auch mit Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds hat er sich bereits ausgetauscht, als um 8.30 Uhr die tägliche Teambesprechung beginnt. Im Laufe des Tages gibt es weitere Sitzungen zu Griechenland, weil Juncker am Abend noch mit Premier Alexis Tsipras telefonieren wird.

Doch es ist eben nicht nur Griechenland, sondern Krisen-Multitasking angesagt. Mit Juncker wird die nächste Kommissionssitzung vorbereitet. Der Vorstoß, angesichts toter Flüchtlinge im Mittelmeer legale Einwanderungswege zu eröffnen, steht auf der Agenda. Mittags kommen Parlamentspräsident Martin Schulz und EU-Ratschef Donald Tusk zum Arbeitsessen, später will Estland Premier Taavi Roivas mit Juncker über den Krieg in Europas Osten reden und was nun zu tun sei. Immer dabei: Martin Selmayr.

"Noch so eine Krise übersteht Europa nicht"

Er weiß, da nun am 9. Mai wieder Europatag gefeiert wird, dass es nicht gut bestellt ist um Europa: "Das europäische Haus steht nach dem Sturm der Finanzkrise nicht mehr auf festem Fundament", sagt der in 1970 in Bonn geborene Jurist, der in Karlsruhe aufgewachsen ist, "an einigen Stellen regnet es durchs Dach — wir müssen überall nachbessern." Ohne die nötigen Reparaturen, glaubt er, gewinnen die Anti-Europäer die Oberhand. Als er mit Juncker vor einem halben Jahr die Führung der neuen EU-Kommission übernahm, hat sein Chef deshalb von der "Kommission der letzten Chance" gesprochen. Selmayr sagt: "Noch so eine Krise übersteht Europa nicht."

Betreibt er also nur noch Schadensbegrenzung? Managt er, der seit elf Jahren für die EU-Kommission arbeitet, nur noch die Misere? Oder ist da doch noch etwas von der großen europäischen Idee übrig?

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Zumindest auf dem Schreibtisch scheint es noch Platz dafür zu geben. Neben den Aktenstapeln und dem Glas mit Gummibärchen, die ihm als Nervennahrung dienen, steht ein kleines Kunstwerk aus Plexiglas, in das eine Euromünze und ein Euroschein eingefasst sind — die Geld gewordenen Symbole der europäischen Einigung.

Es gibt aber Momente, gesteht er, in denen auch ihn der Betrieb nervt, die ewigen Krisen, der ewige Streit. Dann führt er sich die Geschichte des Großvaters vor Augen — und denkt, "dass es eigentlich Luxus ist, dass wir uns in Brüssel über Formulierungen in Dokumenten streiten. Das hilft mir, alles wieder in Perspektive zu setzen".

Geprägt vom Besuch in Verdun

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Foto: dpa, Patrick Seeger

Martin Selmayr ist 15 Jahre alt, als ihn seine Großeltern mit auf eine Frankreich-Reise nehmen. Der Enkel soll das Land kennenlernen, in dem der Opa im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat. Erste Station der Reise heißt Verdun. "Wenn man 15 Jahre alt ist und von seinem Großvater dieses Meer von Kreuzen gezeigt bekommt, hinterlässt das einen nicht auslöschbaren Eindruck", erzählt Selmayr und wiederholt, was der Großvater damals zu ihm sagte: "Es ist Aufgabe deiner Generation dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert."

Als junger Mann nimmt er sich das zu Herzen. Er pflegt Brieffreundschaften mit Frankreich, träumt davon, ins Ausland zu gehen, Sprachen zu lernen. Sein Weg scheint vorgezeichnet. Nach dem Abitur in Karlsruhe studiert er in Passau mit Schwerpunkt Europarecht, ein Auslandssemester in London ist ebenso dabei wie ein Aufenthalt in der Schweiz, wo er das eidgenössische Recht kennenlernt. Erster Arbeitsplatz wird 1998 Frankfurt, wo die neue Europäische Zentralbank Mitarbeiter sucht, auch Juristen. Nach Brüssel lockt ihn die Debatte über eine EU-Verfassung, genauer gesagt der CDU-Abgeordnete Elmar Brok, der im Verfassungskonvent sitzt, aber auch für die Bertelsmann-Stiftung arbeitet. Dort heuert Selmayr an und wird bald Büroleiter in deren Europa-Vertretung. 2004 wechselt er in die EU-Kommission — als Sprecher der Luxemburgerin Viviane Reding.

Es gehört nicht nur europäischer Geist, sondern auch Machtinstinkt dazu, um eine Karriere à la Martin Selmayr hinzulegen. Als Redings Sprecher vermarktete er seine Chefin so geschickt, dass sie zu einer der bekanntesten EU-Kommissare wurde. Er machte die Senkung der Roaminggebühren für Handygespräche zum europäischen Verkaufsschlager — und Reding ihn dafür 2010 zu ihrem wichtigsten Berater.

"Autoritärer" Stil, "gottgleiche" Entscheidungsgewalt?

Es ist kein Zufall, dass er 2014 wieder bei einem Luxemburger anheuert und für Juncker den ersten europaweiten Wahlkampf zur Europawahl managt. Es entspricht seiner europäischen Überzeugung, weil er, wie eine Mitarbeiterin verrät, Politiker aus dem kleinen Großherzogtum für stärker auf einen europäischen Ausgleich bedacht hält und Machtworte aus den großen Mitgliedstaaten nicht mag. Und es verschafft ihm selbst eine Machtoption. Als im Wahlkampf spekuliert wurde, Juncker wolle das stressige Amt des Kommissionschefs eigentlich gar nicht, sondern strebe den Posten des EU-Ratsvorsitzenden an, fragte Selmayr öffentlich: "Wo sitzt die Macht? An der Spitze einer Organisation mit 30.000 Beamten oder in einer mit 300?"

Nun sitzt er da, wo er hinwollte, im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes. "Es ist eine einmalige Gelegenheit und macht unheimlich Spaß, mit dem großen Europäer Jean-Claude Juncker hier die Kommission schmeißen zu können", sagt Selmayr. Bis mindestens 22 Uhr arbeitet er dafür täglich, nimmt noch Akten mit in die U-Bahn nach Hause, ist aber auch am Wochenende so oft im Büro, dass seine Frau ihn gelegentlich dort besucht. Hinzu kommt seine Professur in Saarbrücken, wo er Europarecht lehrt. Erst am Wochenende lagen wieder 45 Klausuren zwischen all den Akten, die er für den Chef durchgehen muss.

In einer Satirerevue britischer Brüssel-Korrespondenten ist er freilich gerade erst als der eigentliche Kommissionschef karikiert worden. "Er regiert sehr autoritär — es gibt Beschwerden von Kommissaren", erzählt ein Unions-Europaabgeordneter in Anspielung auf die neue Struktur mit sieben Vizepräsidenten und untergeordneten Fachkommissaren, die Selmayr eingeführt hat. Die CDU-Abgeordnete Inge Gräßle rügt darüber hinaus den wohlwollenden Griechenland-Kurs ihrer Parteifreunde Juncker und Selmayr offen: "Nicht nur Selmayr führt Listen, auch andere führen ein Sündenregister." In den mächtigen Generaldirektionen, die unter größeren Einfluss der politischen Ebene gebracht werden sollen, brodelt es. Ein Beamter berichtet von "Selmayrs gottgleichen Entscheidungen".

Streit gehört zur Jobbeschreibung

Junckers rechte Hand weiß, dass er nicht der Beliebteste in Brüssel ist, doch seien "alle internen Reformen am Anfang nicht beliebt". Er hält sie für nötig, um Europa effizienter und besser zu machen. Und Streit gehört auch für Selmayr — europäisches Friedensprojekt hin, europäisches Friedensprojekt her — zur Jobbeschreibung: "Wer als Manager nur geliebt werden will, wird kein guter Manager."

Das klingt kühl — und doch sieht Selmayr in seinem Job keine Arbeit wie jede andere. In seinem zwölfköpfigen Team arbeiten Franzosen, Briten, Tschechen, Portugiesen. "Was mich motiviert, morgens ins Büro zu gehen, ist die wundervolle Tatsache, dass wir ziemlich existenzielle Probleme in Sitzungssälen, per Telefon oder E-Mail zu lösen versuchen, während unsere Großeltern einander noch in Schützengräben gegenüber lagen." Allen Rückschlägen zum Trotz seien die Mitarbeiter und er davon getrieben, "dazu beizutragen, dass dieser Kontinent am Ende zusammenbleibt und auch diese Krise wieder überwindet".

Für den Europatag am Samstag hat er daher keine Zeit. Er wird wohl in Verhandlungen mit der Athener Regierung sitzen, um das Finanzministertreffen vorzubereiten. "Vielleicht ist das ja die beste Art und Weise, den Europatag zu verbringen", überlegt Martin Selmayr, "nämlich in den Griechenland-Gesprächen dafür zu sorgen, dass es am Montag weitergeht."

(cz)
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