EU-Gipfel Europa bewertet sich mit "ungenügend"

Brüssel · Die Staaten der Europäischen Union stellen sich in der Flüchtlingskrise ein verheerendes Zeugnis aus. Bis Mitte 2016 wollen sie sich auf neue Regeln für den Schutz der EU-Außengrenzen einigen. Das hat der EU-Gipfel am Donnerstagabend in Brüssel beschlossen.

 Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann im Gespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.

Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann im Gespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.

Foto: dpa, gb pzi

Die Umsetzung bereits beschlossener Maßnahmen sei "ungenügend", heißt es in der Erklärung, die der EU-Gipfel am Donnerstag verabschiedete. Nun müssten alle Teilnehmer die "Defizite" und "Unzulänglichkeiten" an den Grenzen "dringend" in Angriff nehmen.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz kritisierte scharf, dass statt 160.000 bisher nur rund 200 Flüchtlinge über Europa verteilt wurden: "Diese Zahl ist eine Schande." Der Vorschlag, eine neue EU-Grenzpolizei notfalls auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates zur Sicherung dessen EU-Außengrenze einzusetzen, wurde dagegen überraschend wohlwollend aufgenommen. Der Gipfel wies die EU-Innenminister an, sich bis spätestens Juni zu einigen.

Die Mitgliedsländer wollen sich auf den Ausbau der EU-Grenzschutzbehörde Frontex verständigen. Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzte sich dafür ein, dass dies zügig bis zum Abschluss der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft Ende Juni vorankommen soll.

Die EU-Chefs wollen laut Abschlusserklärung auch dafür sorgen, dass die Registrierungszentren für Flüchtlinge in Griechenland und Italien besser arbeiten. Sie fordern auch die ständigen EU-Botschafter auf, sich endlich auf Einzelheiten der Finanzierung von drei Milliarden Euro zu einigen, die an die Türkei zur Unterstützung syrischer Flüchtlinge fließen sollen.

Die Türkei will den Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien mit einer Visumspflicht bremsen. Diese soll vom 8. Januar an gelten, wie Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Brüssel ankündigte. Zugleich werde die Tür für Menschen offenbleiben, die klar als Flüchtlinge erkennbar seien, sagte ein ranghoher türkischer Regierungsvertreter der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. Mit dem Vorstoß reagiere die Türkei darauf, dass über Ägypten und den Libanon immer mehr Leute mit gefälschten syrischen Pässen ins Land kämen.

In der Türkei sind bereits rund zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien untergekommen. Am Rande des EU-Gipfels versammelte sich der "Club der Willigen" aus elf europäischen Ländern, die Ankara Flüchtlingskontingente abnehmen wollen. Zahlen wurden nicht genannt. Davutoglu forderte, die Umsiedlung von Syrern aus der Türkei in EU-Staaten zu beginnen und insgesamt großzügiger vorzugehen.

Bei dem freiwilligen Programm können alle 28 Mitgliedstaaten mitmachen, aber vor allem Osteuropäer sperren sich. Die niederländische EU-Ratspräsidentschaft, die vom 1. Januar an die Amtsgeschäfte der Union führt, wird eine Arbeitsgruppe einsetzen. Zum "Club der Willigen" kamen außer Merkel und Davutoglu auch Spitzenvertreter aus Österreich, Luxemburg, Griechenland, Schweden, Belgien, Finnland, Slowenien, Portugal, Frankreich und den Niederlanden.

Am Abend debattierte die Gipfelrunde über die Reformforderungen des britischen Premiers David Cameron. Er biss mit seinem zentralen Anliegen auf Granit, dass zugewanderte EU-Bürger mindestens vier Jahre in Großbritannien gearbeitet haben müssen, bevor sie einen Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen bekommen. "Wir können nicht hinnehmen, dass unsere Bevölkerung diskriminiert wird", warnte Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite.

Der britische Premierminister sprach laut Diplomaten rund 40 Minuten lang in der Gipfelrunde. Er habe davor gewarnt, dass die starke Einwanderung die Briten dazu bewegen könnte, bei dem bis Ende 2017 geplanten Referendum gegen den Verbleib in der EU zu stimmen.

Viele EU-Zuwanderer auf der Insel kommen aus Osteuropa, aber auch aus dem Süden des Kontinents. Die EU lässt sich auf Reformverhandlungen ein, um Großbritannien in der Union zu halten. Eine Lösung wird für den Februar-Gipfel angestrebt. Cameron sagte: "Wir machen keinen Druck für einen Deal heute, aber wir machen Druck für echte Bewegung."

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich optimistisch über die Aussichten für einen Kompromiss über die umstrittenen Forderungen Großbritanniens nach einer EU-Reform gezeigt. Nach den Beratungen des EU-Gipfels über die Vorschläge des britischen Premierministers David Cameron sagte Merkel am frühen Freitagmorgen in Brüssel: "Bei gutem Willen kann man auch hier Wege finden, die den verschiedenen Anliegen gerecht werden." Eine Änderung der europäischen Verträge schloss Merkel grundsätzlich nicht aus, mahnte aber ein verantwortungsvolles Handeln an.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hält nicht viel von der Idee, Mitgliedsländer mit finanziellem Druck zur schnelleren Umsetzung der vereinbarten Verteilung von Flüchtlingen zu zwingen. "Ich mag diese Drohegebärde nicht so", sagte der Luxemburger. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann hatte zuvor angedeutet, dass finanzielle Konsequenzen für Länder denkbar seien, die keinen Beitrag zur Bewältigung der Flüchtlingskrise leisten wollten.

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(hebu/dpa)
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