Analyse der EU-Gipfel-Ergebnisse Europa kann mit dem Briten-Bonus leben

Brüssel · David Cameron hat in Brüssel den Nationalisten gegeben, damit er in London für Europa kämpfen kann. Der Deal gewährt Großbritannien Ausnahmen, die größer scheinen als sie sind. Und manche kann auch Deutschland nutzen.

 Der britische Premierminister David Cameron erklärt der Presse vor 10 Downing Street in London die Ergebnisse des EU-Gipfels.

Der britische Premierminister David Cameron erklärt der Presse vor 10 Downing Street in London die Ergebnisse des EU-Gipfels.

Foto: afp

Wenn es in Europa ernst wird, wird getwittert. "Vereinbarung steht, Drama vorbei", zwitscherte Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite nach zwei Nachtsitzungen, auf denen sich die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf Sonderregeln für die Briten geeinigt hatten. Und tatsächlich spielte in Brüssel ein Drama, wie es William Shakespeare gefallen hätte.

Die Heldenrolle hat der britische Premier David Cameron für sich reklamiert. Er gab den tapferen Streiter, der allein gegen 27 kämpfte und siegte. Am Ende twitterte er stolz: "Ich habe einen Deal verhandelt, der dem Vereinigten Königreich einen besonderen Status in der EU verleihen wird." Doch ob Cameron auf Dauer Held des Briten-Dramas bleibt, ist offen. Seine Taktik ist klar: Um die Europa-Gegner daheim zu besänftigen, hat er sich an die Spitze der Kritiker gestellt und ein Referendum über den Austritt Großbritanniens (Brexit) angeschoben. Nun sollen die Briten am 23. Juni abstimmen. Cameron selbst will jetzt mit aller Kraft für ein Ja zu Europa werben. Ob er sich durchsetzt, ist offen. Das Land ist tief gespalten wie seine Partei, die Tories. Und wie bei vielen Referenden könnte es auch dieses Mal um andere Fragen als die gestellten gehen: Womöglich stimmen die Briten im Juni nicht über Europa, sondern über Cameron ab. Ein riskanter Kurs also für den smarten Premier.

Die Schurkenrolle im Europa-Drama besetzte wieder mal Alexis Tsipras. Obwohl es dieses Mal nicht um seinen Pleitestaat ging, sorgte der griechische Ministerpräsident für Ärger. Tsipras forderte als Gegenleistung für die Zustimmung zum Briten-Bonus mehr Hilfe in der Flüchtlingskrise. Die EU-Staaten sollten auf Grenzschließungen verzichten, weil diese zu einem Flüchtlingsstau in Hellas führen würden. Am Ende trennte man die Fragen und versicherte Tsipras unverbindlich zu helfen. Und so konnte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Ende twittern: "Deal. Einstimmige Unterstützung für neues Abkommen." Das sieht neue Ausnahmen für die Briten vor, die Cameron als großen Wurf pries. Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem "Kraftakt". Aber auch das war nur Teil der Dramaturgie.

Sozialleistungen Großbritannien darf neu einreisenden EU-Ausländern in den nächsten sieben Jahren Sozialleistungen verweigern. Dabei darf es jeden einzelnen EU-Bürger aber nur bis zu vier Jahre von Leistungen ausschließen. Voraussetzung: Die EU-Kommission stellt fest, dass das britische Sozialsystem überlastet ist und London die "Notbremse" ziehen darf. Die Kommission signalisierte bereits, dass sie das so sehe. Die osteuropäischen Staaten stimmten nur zähneknirschend zu, weil es gerade ihre Bürger auf die Insel zieht. Immerhin handelten sie Cameron von den geforderten 13 Jahren Zahlungsstopp herunter und erreichten, dass die Sperre nur für Neuankömmlinge gilt.

Das Recht auf Notbremse hat nicht nur das Vereinigte Königreich. Alle EU-Länder, die nach der EU-Osterweiterung 2004 ihren Arbeitsmarkt geöffnet hatten, können sie nutzen. Deutschland zählt nicht dazu, hier hatte einst Gerhard Schröder lange Übergangsbestimmungen herausgehandelt. Polen dürfen erst seit 2011 hier arbeiten.

Kindergeld Großbritannien darf Ausländern, deren Kinder noch in Bulgarien oder anderen EU-Ländern leben, weniger Kindergeld zahlen als britischen Eltern. Schließlich seien die Lebenshaltungskosten in Osteuropa deutlich geringer als in England. Bis 2020 soll die verringerte Zahlung für Neuankömmlinge möglich sein, später auch für bereits ansässige EU-Ausländer.

Diese Regelung können alle EU-Staaten nutzen. Merkel stellte in Aussicht, dass auch Deutschland sie anwendet. "Die Frage des Sozialmissbrauchs beschäftigt uns in Deutschland", sagte Merkel. Man werde das in der Koalition besprechen. Gleichwohl dürfte dies vor allem Rhetorik in Richtung CSU sein. Die Zahl der Eltern, die in Deutschland arbeiten und ihren in Rumänien darbenden Kindern hohes deutsche Kindergeld schicken, dürfte überschaubar sein. Vorsorglich wies Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker daraufhin, dass die Indexierung auf Lebenhaltungskosten ohnehin nur für das Kindergeld möglich sei, nicht aber für andere Sozialleistungen wie Rente.

Stärkung nationale Parlamente Weiter setzte London eine Stärkung der Parlamente durch. Danach dürfen nationale Parlamente EU-Gesetze kassieren oder Änderungen verlangen, wenn sie mehr als 55 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Auch das hört sich revolutionärer an als es ist: Schon jetzt müssen wesentliche Beschlüsse von EU-Gipfeln von vielen nationalen Parlamenten ratifiziert werden.

Eurozone Großbritannien ließ festschreiben, dass es nicht in die Eurozone eintritt. "Großbritannien wird nie Teil eines europäischen Superstaates sein", sagte Cameron. Zugleich erhielt er die Zusage, dass Maßnahmen der Euro-Staaten keine negativen Auswirkungen auf den Finanzplatz London haben dürfen. Das bezieht sich zum Beispiel auf die umstrittene Börsensteuer, die London ablehnt, die inzwischen aber ohnehin vor dem Scheitern steht. Zudem gestanden die anderen Staaten Großbritannien das Recht zu, seine Banken selbst zu überwachen.

Selbstzerstörungsklausel Alle Neuregelungen gelten nur, wenn die Briten in der EU bleiben. Sollten sie beim Referendum mehrheitlich für einen Austritt stimmen, bleibt alles, wie es war.

Fazit: Jenseits der rhetorischen Siege hat Cameron nichts erreicht, was Europa ins Markt trifft. Mit dem Briten-Bonus kann die EU gut leben. Frei nach der Shakespeare-Komödie brachte der Gipfel also "Viel Lärm um nichts". Anders sähe es aus, wenn die Briten im Juni für einen Austritt stimmen. Das wäre für das historische Projekt Europa und Europas Wirtschaft ein tiefer Schlag. Cameron würde als Hamlet in die Geschichte eingehen, der aus Selbstsucht alle ins Verderben reißt.

(anh)
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