"Brexit"-Verhandlungen Der Kampf um Großbritannien in der Verlängerung

Brüssel · Sie haben sich das so schön ausgedacht im Team von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Nach den nächtlichen Verhandlungen mit Einzelgesprächen verschiedenster Regierungschefs, sollte es am Freitagmorgen ein "englisches Frühstück" geben. Nicht mit Würstchen, Speck und Spiegeleiern, sondern mehr im übertragenen Sinne.

 Die Verhandlungen um "Brexit" haben dramatische Züge angenommen.

Die Verhandlungen um "Brexit" haben dramatische Züge angenommen.

Foto: dpa

Eine informelle Runde sollte klären, ob man sich nun mit David Cameron über dessen Reformforderungen einig werden könne. Weil der britische Premier aber bis um fünf Uhr früh mit seinen Kollegen verhandelt hat, wird daraus erst ein "englisches Lunch". Als auch die Mittagszeit mit weiteren bilateralen Treffen verstreicht, sagt ein Brüsseler EU-Diplomat: "Wir nähern uns eher der spanischen Uhrzeit für ein Mittagessen."

Die Verhandlungen zwischen der britischen Regierung und den übrigen 27 EU-Staaten haben am Freitag Züge eines Dramas angenommen. Erklärtes Ziel ist ein rechtsverbindlicher Vertrag mit weitreichenden Zugeständnissen an London, der die Beziehungen zwischen dem Königreich und der Gemeinschaft neu regelt, ihr eine stärker auf Wettbewerb, Handel und Bürokratieabbau angelegte Agenda verpasst sowie Sozialleistungen für EU-Ausländer einschränkt.

Das soll Cameron ermöglichen, die für den 23. Juni geplante Volksabstimmung über Verbleib oder Austritt aus der Europäischen Union zu gewinnen. Nur mit weitreichenden Zugeständnissen ist bereit, für ein Ja zur EU zu werben. Am Freitagvormittag betont er noch einmal, dass "Großbritannien einer Einigung nur zustimmen wird, wenn es bekommt, was es braucht.

Selbst ist Cameron auf jeden Fall darauf angewiesen, dass in der britischen Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, er habe alles herausgeholt für sein Land, was nur irgend möglich war. "I will be battling for Britain", hat er in Anlehnung an die Luftschlacht über England im Zweiten Weltkrieg schon bei der Ankunft gesagt.

Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite prophezeite da bereits eine Art Show, obwohl eine Übereinkunft mit den Briten ausgemachte Sache sei, da alle EU-Staaten klar betont haben, dass sie das Land dringend in ihrem Club behalten wollen: "Ich denke, jeder wird sein eigenes Drama haben, und am Schluss werden wir uns einigen."

Je länger sich die Sitzung am Freitag hinzieht, desto größer werden jedoch die Zweifel an dieser These. "Das ist kein Drama um des Dramas willen", sagt einer aus dem Umfeld von EU-Ratspräsident Donald Tusk, der die Verhandlungen leitet, "es geht hier um echte nationale Interessen."

Drei Personen sind es vor allem gewesen, die David Cameron das Leben schwer machen und die auf dem Tisch liegenden Zugeständnisse so nicht akzeptieren wollen. Alle hat Tusk in der Nacht zu sich gerufen und zusammen mit Cameron an einen Tisch gesetzt: den französischen Staatschef Francois Hollande, den belgischen Premier Charles Michel und Tschechiens Ministerpräsidenten Bohuslav Sobotka. Sie stehen am Freitagnachmittag stellvertretend für die drei noch offenen Punkte, ohne die es keinen Deal gibt.

Für jene, die keine Nachteile im Verhältnis von Ländern in und außerhalb der Eurozone zulassen wollen, spricht der Franzose Hollande. Es geht einerseits um eine Sicherheitsmechanismus für die Briten, damit sie sie mitbetreffende Entscheidungen der Währungsunionsländer in großer Runde aller 28 EU-Staaten noch einmal diskutieren können — Frankreich befürchtet, daraus könnte ein Veto gegen dringend benötigte Reformen im Euroraum werden, wenn nur ein einziges Land einen solchen Aufschub erwirken könnte.

Andererseits haben viele Euroländer, neben Frankreich vor allen Luxemburg und Deutschland, ein Problem damit, dass der Finanzplatz London keine weitere Regulierung aus Brüssel zu befürchten haben soll und sich nur noch der Bank of England unterordnen will. Die Bundesregierung befürchtet, der Finanzplatz Frankfurt könne daran Schaden nehmen. "Wir treten hier keineswegs nur selbstlos auf", so ein EU-Diplomat im Hinblick darauf, dass Kanzlerin Angela Merkel für den britischen Verbleib viel zu akzeptieren bereit ist.

Charles Michel, der Premier des zutiefst von der europäischen Idee überzeugten Belgien, kämpft um die Idee der "immer engeren Union". Cameron will das in Artikel 1 der EU-Verträge verankerte Ziel so ausgelegt haben, dass daraus keine weitere europäische Integration abgeleitet werden kann.

Daran aber liegt den Belgiern, die die Brüsseler EU-Organe beheimaten. "Eine EU ohne immer engere Union", hat einer aus ihrer Delegation schon am Donnerstag festgestellt, "ist wie eine Hochzeit ohne Liebe." Die nächtliche Dreierrunde Cameron-Michel-Tusk habe diesbezüglich zwar "Fortschritte und Annäherungen bei den Formulierungen" gebracht — aber eben noch keinen Durchbruch.

Das gilt auch für das Thema Sozialleistungen. Der Tscheche Sobotka verhandelt für die sogenannten Visegrad-Staaten, zu denen auch Polen, die Slowakei und Ungarn zählen. Sie haben zwar im Grundsatz akzeptiert, dass es zu Kürzungen beim Kindergeld für die in der Heimat gebliebenen Kinder in Großbritannien arbeitender EU-Ausländer kommen wird — und auch eine vierjährige Übergangsphase für ihre Landsleute bis zur vollen Höhe von staatlichen Aufstockerprogrammen haben sie geschluckt.

Sie kämpfen jedoch vehement dafür, die Einschränkungen einzuschränken: Das an die Lebenshaltungskosten zuhause angepasste Kindergeld soll nur gelten für EU-Ausländer, die sich neu in einem anderen Land niederlassen. Und der britische Staat soll ihre Arbeitnehmer nicht bis 2029 von den Steuervergünstigungen für Geringverdiener ausnehmen können, sondern nur bis 2021.

Am späten Nachmittag macht ein Gerücht die Runde im Brüsseler Ratsgebäude, wonach der griechische Premier Alexis Tsipras die beiden Gipfelthemen Flüchtlinge und Großbritannien miteinander verbunden haben soll: Er werde einem Deal mit Cameron nur zustimmen, wenn die Staaten entlang der Balkanroute garantierten, ihre Grenzen nicht zu schließen, was zu einen Rückstau von Flüchtlingen in seinem Land führen würde. Eine Bestätigung gab es dafür zunächst nicht, allerdings auch kein Dementi.

Mittlerweile ist auch die Zeit für den "Afternoon Tea" vorbei.

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