Bundestag Merkel gegen britische "Rosinenpickerei" nach Brexit-Votum

Berlin/Brüssel · Klare Ansage aus Berlin und Brüssel: Den Briten soll keine Extrawurst gebraten werden, und sie sollen sich beim EU-Austritt nicht zu viel Zeit lassen. Kanzlerin Merkel sieht Europa an einem Scheideweg.

 Bundeskanzlerin Merkel mahnt: Keine Rosinenpickerei und keine Hängepartie

Bundeskanzlerin Merkel mahnt: Keine Rosinenpickerei und keine Hängepartie

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In Berlin und in Brüssel wächst der Druck auf die Briten, Klarheit über ihren erwarteten Austritt aus der EU zu schaffen. Wenige Stunden vor dem zweitägigen Gipfel zum Zustand der Europäischen Union machte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) deutlich, dass sie Großbritannien künftig keine Sonderrolle zugestehen will. "Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden", sagte sie in einer Regierungserklärung im Bundestag.

Nach dem knappen Votum für einen Brexit am vorigen Donnerstag forderte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker London zum schnellen Handeln auf. "Ich möchte, dass Großbritannien seine Position klärt. Wir können uns nicht auf einen langen Zeitraum der Ungewissheit einlassen", sagte er bei einer Sondersitzung des Europaparlaments in Brüssel. Auch die EU-Abgeordneten verlangten in einer Resolution eine rasche Austrittserklärung Großbritanniens, damit der Scheidungsprozess eingeleitet werden kann. Die vier großen Fraktion im Parlament - EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne - hatten den Antrag gemeinsam gestellt.

SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel sieht außerdem keine Grundlage für Spekulationen, ein EU-Austritt Großbritanniens könne doch noch abgewendet werden. Die Briten hätten in einem demokratischen Votum den Brexit entschieden, "jetzt geht es nur noch um die Frage, in welcher Weise sie rausgehen", sagte Gabriel am Dienstag bei einem Treffen der europäischen Sozialdemokraten vor dem EU-Gipfel in Brüssel. EU-Parlamentspräsident Schulz hat sich dagegen dafür ausgesprochen, den Briten im Zweifelsfall einen Rückzieher von ihrer Brexit-Entscheidung zu ermöglichen. Wenn das Vereinigte Königreich zu anderen Erkenntnissen komme oder die Menschen noch einmal nachdenken wollten, sollte "das ganz sicher unterstützt werden", sagte der SPD-Politiker. Das dürfe den Start der Verhandlungen aber nicht hinauszögern.

Merkel rief die übrigen EU-Mitgliedsstaaten im Bundestag zur Geschlossenheit auf. "Die Europäische Union ist stark genug, um den Austritt Großbritanniens zu verkraften." London könne nach dem Anti-EU-Votum nicht erwarten, dass alle Pflichten entfielen, die Privilegien aber bestehen blieben. "Es muss und es wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte oder nicht." So müssten für freien Zugang zum EU-Binnenmarkt die Grundfreiheiten wie die Freizügigkeit akzeptiert werden. Das Brexit-Lager hatte angekündigt, Zuwanderung selbst nach einem Punktesystem steuern zu wollen.

Die Kanzlerin betonte, dass die Briten auch nach einem EU-Austritt ein wichtiger Partner etwa in der Nato bleiben würden. Die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten deutsch-britischen Beziehungen würden in aller Freundschaft weitergeführt. Vor dem von London offiziell erklärten Austrittswunsch werde es aber keine Vorab-Verhandlungen geben - "weder formell noch informell". Auch Juncker betonte, bevor London seinen Austrittswunsch nicht offiziell angemeldet habe, gebe es keine Verhandlungen. "Ich habe meinen Kommissaren verboten, mit Vertretern der britischen Regierung zu diskutieren. Solange es keine Notifizierung gibt, gibt es auch keine Verhandlungen."

Der britische Rechtspopulist und Brexit-Wortführer Nigel Farage will auch nach einem EU-Austritt auf Handelsbeziehungen mit der EU nicht verzichten. Im Europaparlament warb er für ein Freihandelsabkommen.
"Wir werden mit Euch Handel treiben, wir werden mit Euch kooperieren", sagte der EU-Abgeordnete. "Wir werden Euer bester Freund auf der Welt sein." Farage schickte aber eine Warnung hinterher: Sollte es eine solche Vereinbarung nicht geben, wären die Konsequenzen für die EU viel schlimmer als für sein Land.

Einer der Favoriten auf die Nachfolge von Premierminister David Cameron im Herbst will sich nun nicht für den Posten bewerben. "Ich bin nicht die Person, die die Einigkeit bieten kann, die meine Partei braucht", schrieb Finanzminister George Osborne in einem Gastbeitrag für die britische "Times". Der konservative Politiker hatte für den Verbleib in der EU geworben, die Briten stimmten aber mit 52 Prozent für den Brexit. Laut einer am Dienstag veröffentlichte Umfrage des Instituts YouGov liegt Innenministerin Theresa May, die gegen den Brexit war, in der Gunst der Tory-Wähler vor dem ehemaligen Londoner Bürgermeister und Austrittsbefürworter Boris Johnson.

Brexit: Reaktionen zur Abstimmung
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Die Staats- und Regierungschefs der EU wollen beim EU-Gipfel in Brüssel über die Konsequenzen aus dem britischen Votum beraten. Der scheidende britische Premier Cameron informiert sie am Abend über den Ausgang des Referendums. Am Mittwoch kommen die verbleibenden 27 EU-Staaten ohne Großbritannien zusammen.

(crwo/hebu/dpa/afp)
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