Istanbul EU kritisiert Rückschritte der Türkei

Istanbul · Die EU-Kommission sieht beim Beitrittsbewerber die Meinungs- und Pressefreiheit in Gefahr.

Die Europäische Union hat die Drangsalierung der Medien beim Beitrittsbewerber Türkei scharf kritisiert. Es habe "bedeutsame Rückschritte" beim Thema Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegeben, erklärte die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei für das laufende Jahr. Strafverfahren gegen Journalisten, Autoren und Nutzer sozialer Medien seien Grund zu "erheblicher Sorge", heißt es von der EU. Viel Aussicht auf rasche Veränderungen besteht trotz der deutlichen Kritik jedoch nicht. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu rechtfertigte die Festnahmen von Journalisten.

Aus Rücksicht auf die türkische Führung, deren Mitarbeit in der Flüchtlingskrise für die EU von immenser Bedeutung ist, hatte die Kommission die Veröffentlichung des Berichts vor der türkischen Parlamentswahl am 1. November vermieden. Insbesondere die sehr kritischen Anmerkungen zur Lage der Medien in dem Bericht lassen erkennen, warum die EU den Zorn Ankaras befürchtete.

So beklagt der EU-Bericht unter anderem "eine willkürliche und restriktive Auslegungen der Gesetze, politischen Druck, Entlassungen und häufige Gerichtsverfahren gegen Journalisten, die auch zur Selbstzensur führen". Der Regierung wird "starker Druck auf die Medien" vorgeworfen. Es gebe Drohungen, Einschüchterungen und vereinzelt sogar körperliche Angriffe auf Journalisten. Zudem würden mehr und mehr Verfahren wegen angeblicher Beleidigung von Präsident Recep Tayyip Erdogan eröffnet, was mehrjährige Haftstrafen nach sich ziehen könne. Diese Strafandrohung widerspreche der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Auch der politische Druck auf die Justiz in der Türkei wird in dem Bericht kritisiert. Zudem ruft die EU die türkische Regierung zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit den Kurden auf. Lobend erwähnt wird indes die Bereitschaft des Landes zur Aufnahme von rund 2,2 Millionen Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisenländern.

Ankara wies die Vorwürfe der EU zurück. Das dortige Europa-Ministerium erklärte, die Kritik sei unangebracht. Premier Ahmet Davutoglu hatte schon am Montag dem US-Fernsehsender CNN gesagt, die Pressefreiheit sei für ihn eine "rote Linie", die nicht angetastet werden dürfe. Im selben Atemzug sagte Davutoglu aber auch, die Inhaftierung von zwei Redakteuren des Nachrichtenmagazins "Nokta" in der vergangenen Woche sei für ihn kein Angriff auf die Pressefreiheit, sondern die Antwort auf eine "Provokation".

Beobachter erwarten keine Verbesserungen der Lage aufgrund der Kritik: Da die EU dem Land keine realistische Beitrittsperspektive biete, werde das Wort aus Brüssel wohl nur mit einem Schulterzucken aufgenommen, hieß es. Ohne Fortschritte in den Gesprächen über einen türkischen EU-Beitritt werde der Bericht keinerlei Einfluss haben, kommentierte etwa der Türkei-Experte Ziya Meral auf Twitter.

Der Autor Barbaros Altug merkte mit Blick auf die scharfe Kritik in dem Bericht an, ohne die spezielle Rolle der Türkei für die EU wegen der Syrien-Krise würde Brüssel die Beziehungen zu Ankara wohl ganz kappen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte der Türkei im Gegenzug für die Mitarbeit bei der Eindämmung des Flüchtlingsstroms die Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels bei den Beitrittsgesprächen noch vor Jahresende in Aussicht gestellt.

(RP)
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