Berlin/Brüssel/London EU drängt London zu schnellem Brexit

Berlin/Brüssel/London · Das historische Votum zum EU-Ausstieg hat Großbritannien in ein beispielloses politisches Chaos gestürzt. Über den Beginn der Austrittsverhandlungen herrschen in London und Brüssel unterschiedliche Auffassungen.

In Großbritannien macht sich Katerstimmung breit: Turbulenzen an den Märkten, Chaos in den Parteien, wütende Schotten und Nordiren. Angst, dass alles teurer und schlechter werden könnte, veranlassen in Umfragen jetzt viele, die für den Austritt gestimmt hatten, zu Aussagen wie diesen: "Ich verstehe jetzt erst, was Brexit heißt", oder: "Ich habe doch nur aus Protest so abgestimmt, ich wollte das ja nicht wirklich", und immer wieder: "Ich dachte, meine Stimme zählt nicht." Mehr als drei Millionen Briten verlangen inzwischen per Petition, noch einmal abstimmen zu dürfen. Allerdings dämpfen Experten diese Hoffnung. Eine zweite Volksbefragung werde es nicht geben, sagte der Wahlforscher John Curtice.

Wie schnell soll der Austritt über die Bühne gebracht werden? Welche Prioritäten gelten jetzt für den Reformprozess der EU? Und: Von wem soll die Initiative ausgehen? Diese Fragen bestimmen in dieser Woche die Krisentreffen der EU: Schon heute hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nacheinander EU-Ratspräsident Donald Tusk, Frankreichs Präsident François Hollande und Italiens Regierungschef Matteo Renzi zu Gast. Morgen dann gibt sie im Bundestag erst eine Regierungserklärung ab und fliegt anschließend zum ersten EU-Gipfel der neuen Zeitrechnung nach Brüssel. Dort kommt es zum Wiedersehen mit Briten-Premier David Cameron, der erklären soll, wie er sich das Scheidungsverfahren vorstellt.

Das Europäische Parlament verlangt von London, unverzüglich Verhandlungen einzuleiten. Doch der britische Außenminister Philip Hammond wischte solche Forderungen gestern vom Tisch: "Den Zeitplan hat nur Großbritannien zu bestimmen. Das Referendum ist eine interne Angelegenheit." Die Briten gehen davon aus, dass der Prozess erst in einigen Monaten beginnen wird, wenn ein Nachfolger für den scheidenden Premier Cameron gefunden ist.

In der SPD wächst der Druck auf Merkel, sich für sofortige Austrittsverhandlungen einzusetzen. Fraktionsvize-Chef Axel Schäfer sagte: "Die SPD wird es keinen Tag lang hinnehmen, wenn die Bundeskanzlerin beim EU-Gipfel vor dem Zeitdiktat von Premier David Cameron einknickt." Merkel selbst scheint hingegen keine besondere Eilbedürftigkeit bei der Umsetzung des EU-Austritts zu sehen. "Ehrlich gesagt, soll es nicht ewig dauern. Aber ich würde mich jetzt auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen", so die Kanzlerin. Die britische Regierung müsse aber Auskunft über das weitere Vorgehen geben. Dabei betonte Merkel, die Traurigkeit über den Brexit sei kein Grund, bei den Verhandlungen "in irgendeiner Weise besonders garstig zu sein".

Als erste Antwort auf den Brexit haben Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault in einem gemeinsamen Papier unter anderem einen Sicherheitspakt für eine viel engere Zusammenarbeit der EU-Staaten bei der inneren und äußeren Sicherheit angemahnt . Zudem wird für die Eurozone ein stärkerer Ausgleich zwischen Überschuss- und Defizit-Ländern gefordert. "Der Schutz unserer Außengrenzen ist nicht länger ausschließlich eine nationale Angelegenheit, sondern eine gemeinsame Verantwortung", heißt es. Die EU müsse den "weltweit ersten multinationalen Grenz- und Küstenschutz" schaffen.

In der Union mokiert man sich allerdings schon darüber, dass die SPD mit zu schnellen Antworten vorpresche. Der Fraktionschef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, plädiert dafür, in der Debatte über Schlussfolgerungen aus dem Brexit nicht die spezifischen Gründe für das britische Votum zu vergessen. Merkel will vor allem die Einheit der 27 verbleibenden EU-Länder wahren und bremst deshalb schnelle Initiativen, die eine weitere Spaltung bedeuten könnten. Die EU dürfe nicht in Gruppen zerfallen, mahnte die Kanzlerin.

Schottland erwägt unterdessen die Blockade eines britischen EU-Ausstiegs. Sollte sich herausstellen, dass dies zur Sicherung der schottischen Interessen notwendig sei, werde sie diesen Weg gehen, bekräftigte die Chefin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon. Ein "Nein" des schottischen Parlaments hätte Gewicht: Die komplexen Vereinbarungen zur Macht-Aufteilung in Großbritannien beinhalten, dass die Regionalregierungen in Schottland, Wales und Nordirland Entscheidungen aus London wie einen EU-Austritt mittragen müssten.

(RP)
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