Kyschtowka Einmal Sibirien und zurück

Kyschtowka · Nach 20 Jahren im Westen wollte die russlanddeutsche Familie Martens zurück in die alte Heimat. Doch lange hielt sie es dort nicht aus.

Familie Martens war eine Sensation. Als Eugen und Luisa im Dezember im Rahmen eines russischen Rückführungsprogramms in die alte Heimat zurückkehrten, rissen sich Moskaus Medien um die Familie aus Nordrhein-Westfalen. Im Herbst hatten die Eheleute den Beschluss gefasst:"Wir kehren mit den Kindern nach Sibirien zurück und bauen uns eine neue Existenz auf". Anfang der 90er Jahre waren Jewgenij - so hieß Eugen damals - und Luisa als Russlanddeutsche in die Heimat der Vorväter ausgewandert. Im Winter brachen sie nun wieder auf, diesmal nach Osten.

Russland war entzückt, begeistert wurden die Heimkehrer aufgenommen. Zwar kehrt immer mal wieder jemand aus dem Westen zurück, doch sind das eher Einzelfälle. Großfamilie Martens nahm auch gleich alle Kinder mit, zehn sind es an der Zahl. Daraus sprach nicht nur Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Auch der Glaube an unkomplizierte Lebensbedingungen in der alten Heimat war darin enthalten.

Behörden und Medien präsentierten die Musterfamilie denn auch als lebendigen Beweis für die Richtigkeit russischer Politik. Moskau geißelt seit Jahren den angeblichen Werteverfall im Westen und ruft sich selbst zum Hort traditioneller Werte aus. Vor allem Christentum und Familie gelte es zu schützen. Dass Homosexualität strikt abgelehnt wird, versteht sich von selbst.

Es war der deutsche Umgang mit Sexualität, der die Familie zur Auswanderung bewegte. "Der Kindergarten lud zu einer Veranstaltung über kindliche Sexualität ein. Pädagogen denken sich Doktorspiele aus. Jeder darf jeden berühren, dafür gibt es sogar einen Raum, in dem die Kinder ungestört sind", sagte Eugen russischen Medien. Mädchen würden gar ermutigt, sich Geschlechtsgenossinnen zuzuwenden, behauptete der 45-Jährige entrüstet. In Deutschland hätte jedes Kind ein Recht auf seine eigene sexuelle Identität, klagte der Möbeltischler. In Deutschland gehörte Eugen zu einer kleinen Sekte, der "Organischen Christus-Generation". Sexualkundeunterricht lehnen die Sektenmitglieder vehement ab.

Kurzum: Für Eugen Martens herrschte in Deutschland Sodom und Gomorrha. Für seine Überzeugung wurde er auch schon mal in Polizeigewahrsam genommen, weil er seine Tochter Melitta nicht am Sexualkundeunterricht hatte teilnehmen lassen.

Solche Erzählungen fallen in Russland auf fruchtbaren Boden. Dort, wo eine Mehrheit überzeugt ist, die Welt werde von einem Sittenverfall heimgesucht. Wird diese "Verlotterung" noch mit der Flüchtlingsproblematik in Deutschland verknüpft, fühlt sich der durchschnittliche russische TV-Konsument in seiner Weltsicht bestätigt, die er von den heimischen Medien rund um die Uhr vorgesetzt bekommen. Viele sind überzeugt, Russland sei weltweit der letzte züchtige Ort und Hort von Stabilität.

Wo junge männliche Flüchtlinge nichts zu tun haben, weil sie nicht arbeiten dürften, könne er seine Kinder guten Gewissens nicht mehr unbeaufsichtigt auf die Straße lassen, meinte Eugen. So zog er eben zurück nach Russland. Genauer gesagt in das Dorf Kyschtowka, 540 Kilometer nördlich von Nowosibirsk in Sibirien.

Die russische Repatriierungsbehörde zahlte anstandslos 130.000 Rubel (umgerechnet 2100 Euro) Eingliederungshilfe. In Kyschtowka zog die Familie in ein Holzhaus, das 20 Jahre leer gestanden hatte. Dach und Außenwände waren undicht und mit Löchern übersät. Aus allen Ecken zog es. Strom und fließend Wasser gibt es in der Siedlung nicht.

Die Dorfbewohner nahmen die neuen Zuwanderer indes herzlich auf. Sie strickten Pullover, warme Strümpfe und dicke Mützen. Um den seltsamen Nachbarn über den Winter zu helfen, teilten sie Eingelegtes und Eingemachtes mit den Deutschen, die es ausgerechnet an einen Ort verschlagen hatte, den dessen Einwohner lieber heute als morgen verlassen würden. Drei Viertel der Bewohner sind seit dem Zweiten Weltkrieg aus dieser Region abgewandert.

Eugen träumte von einem eigenen Bauernhof. Aber der Erwerb von Grund und Boden stellte sich auch im dünn besiedelten Sibirien als schwierig dar. Keine Bank war bereit, ihm einen Kredit einzuräumen oder nur zu räuberischen Zinssätzen. Den Kauf eines Traktors verschob Martens daraufhin erst einmal. Lieber wollte sich Eugen erneut in seinem alten Beruf als Möbeltischler versuchen. Holz ist in der Umgebung reichlich vorhanden. Wieder warnten ihn neue Bekannte: Wer soll die handgefertigten Möbel in unserer Einöde kaufen? Bis zur nächsten Bahnstation seien es mindestens 100 Kilometer, und in den Sümpfen rund um Kyschtowka gebe es keine asphaltierten Straßen. Dass die russische Bürokratie keine große Stütze ist, hatte der Umsiedler da schon längst festgestellt.

Im Februar erfasste auch noch eine Kälteperiode Kyschtowka. Das Thermometer sank auf minus 40 Grad, während die Familie auf Matratzen auf dem Boden kauerte. Noch immer war das Haus nicht wetterfest. Eines Tages fiel den Dörflern dann auf, dass es bei den Martens' ungewöhnlich still war. Bei Nacht und Nebel hatte die Familie sich davongeschlichen. Ihr Ziel: Deutschland. Nach zwei Monaten Russland schienen Sexualkunde und Flüchtlinge nicht mehr ganz so schrecklich zu sein.

(RP)
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