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London Eine Deutsche will die Briten aus der EU lotsen

London · Das Lager der Austrittsbefürworter wird von einer gebürtigen Niederbayerin angeführt. Ihre neue Heimat sieht sie existenziell bedroht.

Es wäre der Gipfel der Ironie. Man stelle sich vor: Großbritannien verlässt die Europäische Union, und wer hat das Königreich herausgeführt? Ausgerechnet eine Deutsche. Doch das könnte durchaus wahr werden.

Am 23. Juni stimmt das Königreich in einem Referendum über den Brexit, den britischen Austritt aus der EU, ab. Die Lobbygruppe "Vote Leave", die das Brexit-Lager anführt, wird von Gisela Stuart als Vorsitzender geführt. Und es ist klar, dass die 60-jährige Politikerin, geboren im niederbayrischen Velden, ihr Möglichstes tun wird, um die Briten von den Segnungen einer Scheidung von der EU zu überzeugen. Für "Vote Leave" ist Gisela Stuart ein Glücksfall. Denn sie ist erstens weiblich, zweitens Mitglied der Labour-Partei und drittens eine gebürtige Deutsche. Mit ihr versucht "Vote Leave", dem Image eines konservativen Clubs verbohrter Euroskeptiker gegenzusteuern und neue Wählerschichten zu erschließen.

Fast 42 Jahre lebt Gisela Stuart mittlerweile in England und ist längst britische Staatsbürgerin geworden. Als sie 1974 als Teenagerin nach Großbritannien kam, waren ihre Sprachkenntnisse noch bescheiden. "Im Abitur bin ich im Englischen fast durchgefallen", bekannte sie, bekam aber in ihrer neuen Heimat trotzdem einen Job als Buchhändlerin. Ein Studium der Rechtswissenschaften folgte, bevor sie Mitte der 90er Jahre in die Politik ging. Sie wurde als Kandidatin der Labour-Partei für den Wahlkreis Birmingham-Edgebaston aufgestellt und gewann ihn 1997, als Labour unter dem charismatischen Chef Tony Blair im ganzen Land einen Erdrutschsieg einfahren konnte.

Seitdem hat Stuart, wenn auch mit knappen Mehrheiten, ihr Mandat in Birmingham vier weitere Male gewinnen können, und das will etwas heißen. Denn der Wahlkreis war zuvor mehr als 100 Jahre lang eine feste Bastion der Konservativen gewesen. Stuart hat ihn erstmals für Labour erobern können und hält ihn jetzt länger als der frühere konservative Premierminister Neville Chamberlain.

Ihre deutsche Herkunft hat ihr bei den Wählern im Übrigen nicht im Mindesten geschadet. "Nicht von hier zu kommen", meint sie mit Verweis auf den hohen Anteil an Einwanderern aus Indien, "trifft auf die meisten von uns zu, die Birmingham zu ihrer Heimat gemacht haben." Auf den Straßen von Edgebaston kennt man sie, die mit ihrer Heirat den Mädchennamen Gschaider abgelegt hatte, vor allem beim Vornamen: "Dschisela" wird sie hier genannt.

In der Labour-Regierung brachte sie es bis zur parlamentarischen Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, bevor sie von Tony Blair 2002 zum Mitglied im Präsidium des Europäischen Verfassungskonvents ernannt wurde, wo sie an dem später bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Verfassungsentwurf für die EU mitarbeitete. Politisch ist Stuart eine konservative Seele und gehört dem rechten Flügel von Labour an. Sie stimmte für den Irak-Krieg und später gegen eine Untersuchung der Verfehlungen während des Einsatzes, für die scharfen Anti-Terror-Gesetze und für die Beibehaltung der auf U-Booten stationierten britischen Trident-Nuklearraketen. Sie war die einzige Labour-Politikerin, die sich für eine Wiederwahl des amerikanischen Präsidenten George W. Bush einsetzte.

Ihre Zeit im Verfassungskonvent haben Stuarts Ansichten über die EU entscheidend geprägt. "Nicht ein einziges Mal in den 16 Monaten, die ich im Konvent verbrachte, haben die anderen Repräsentanten hinterfragt, ob eine tiefere Integration das ist, was die Völker von Europa wollen", schrieb sie 2004 in einem Pamphlet "The making of Europe's Constitution" (Die Entstehung der europäischen Verfassung), das ihre Erfahrungen mit der Arbeit an dem späteren Lissabon-Vertrag bilanzierte. Seitdem wird Gisela Stuart nicht müde, vor den Gefahren einer tieferen europäischen Integration zu warnen. Ein Grund für ihre Euro-Skepsis ist das demokratische Defizit der EU, wo Bürokraten Entscheidungen treffen, ohne politisch verantwortlich dafür zu sein. "Für die Wähler ist die entscheidende Frage", schrieb sie, "'kann ich diese Leute loswerden, wenn ich nicht mag, was sie tun?'. Das war immer das Problem der europäischen Institutionen, und die Verfassung löst es nicht."

Außerdem ist die Niederbayerin überzeugt, dass der Euro auf Dauer nicht funktionieren kann. Schlimmer noch: Er zwinge die Euro-Länder zu einer fiskalischen und politischen Union, die wiederum zu einem europäischen Superstaat führen wird. Die Nicht-Euro-Länder würden dazu verurteilt, "Entscheidungen nur abzuwarten und nicht selber zu treffen. Für ein Land von Großbritanniens Status kann es nicht die richtige Option sein, dieser zweiten Liga anzugehören." Und am allerschlimmsten: Der Imperativ einer "immer engeren Union" und damit die Entwicklung eines immer weiter integrierten Europas geht "gegen die historischen Ziele der britischen Außenpolitik". Vor 100 Jahren habe das Land "einen Krieg geführt, um zu verhindern, dass der Kontinent von einer einzigen Macht dominiert wurde". Sprich: die Entstehung eines europäischen "Superstaates" stellt in Stuarts Augen eine existenzielle Gefahr für Großbritannien dar.

Was Gisela Stuart bei dieser Argumentation nicht berücksichtigen will, sind die politischen Zugeständnisse, die Premierminister David Cameron in seinen Verhandlungen mit den EU-Partnern erreicht hat. Großbritannien bekommt einen "speziellen Status", ist ausdrücklich befreit von der Verpflichtung zu einer immer engeren Union und erhält darüber hinaus Garantien, dass Initiativen der Eurozone nicht nachteilig für Nicht-Euro-Länder ausfallen werden. Damit sollte gesichert sein, dass Großbritannien zum einen bei einer weiteren Integration nicht mitmachen muss und zum anderen, wenn sie denn eintritt, vor negativen Konsequenzen geschützt ist. Doch die Labour-Politikerin bezeichnet die Verhandlungsergebnisse des Premiers als "bloße Flickschusterei".

Im Wahlkampf soll Stuart vor allem diejenigen Leute erreichen, die "Vote Leave" normalerweise nicht erreichen kann, also Labour-Wähler. Demzufolge hat sie ihre Botschaft kalibriert und spricht jetzt weniger von Souveränitätsverlust als davon, welche schlimmen Folgen die Euro-Rettungsaktionen auf dem Kontinent gehabt hätten. Drei Millionen junge Leute in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal seien auf dem Abfallhaufen der Arbeitslosigkeit gelandet. Arbeiterrechte in Griechenland und anderswo seien durch die Troika zerstört worden. Die Freizügigkeit in der EU sei "ohne nationale Schutzvorkehrungen und Rechte für Arbeiter wenig mehr als eine Abwärtsspirale". Sie hält die Gefahren für einen Verbleib in der EU für größer als die im Fall eines Austritts. Oft, sagte Gisela Stuart in einem Interview, falle es einem "Ausländer zu, den Einheimischen zu sagen, was sie haben und was sie in Gefahr sind zu verlieren".

(RP)
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